1981 — »Die Ordnungen, auf die wir uns stützen und an die wir unser Leben anpassen, sind nicht für immer da«
Paul Feyerabends »Irrationalität oder: Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?« wiedergelesen
Von Nicola Condoleo
Paul Feyerabends »Irrationalität oder: Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?«
»Reporter: Herr Feyerabend, in Ihrem letzten Buch…
Feyerabend: Sie meinen eine dieser gedruckten Ausschweifungen, die der Suhrkamp Verlag unbedingt auf den Markt werfen musste?
Reporter: … in Ihrem letzten Buch haben Sie den Gedanken entwickelt, dass in einer freien Gesellschaft alle Traditionen gleichermassen das Recht haben müssen, sich zu entwickeln, und das, ohne einer rationalistischen ›Supertradition‹ unterworfen zu werden. Dass das möglich sei, darüber soll Ihrer Meinung nach eine Polizei wachen. Aber diese Polizei, die bereitet mir Kopfzerbrechen…«.
So fabulierte Hans Peter Duerr in seinem 1985 erschienenen Satyricon ein Interview mit seinem Freund Feyerabend.
Feyerabend knackte vorzugsweise Rationalismus-Schädel. Er verwendete Kopfnuss-Argumente. Glaubt man den humoristischen Beschreibungen von Hans Peter Duerr, dann wäre es sogar Feyerabends eigentliche Absicht gewesen, rationalistische Nüsse zu knacken. Das Zerbrechen der Köpfe begann spätestens mit dem Erscheinen seines »Against Method. Outline of an Anarchistic Theory of Knowledge« (1975), worin es kurz gefasst hieß: »Anything goes!«. Jede Tradition von Erkenntnis oder Wissen, so Feyerabend, hätte ihre Berechtigung, bedacht zu werden. Oder wie Feyerabend sein Vorhaben beschreibt: »Ich habe nicht die Absicht, eine Menge allgemeiner Regeln durch eine andere zu ersetzen; meine Absicht ist vielmehr, den Leser davon zu überzeugen, dass alle Methodologien, auch die einleuchtendsten, ihre Grenzen haben.« Was ursprünglich aus einer Art Wette mit seinem Freund Imre Lakatos entstand, schreckte die wissenschaftsphilosophische Gemeinde damals und schreckt sie manchmal heute noch auf. Aktuell erscheint Feyerabends Position insofern bemerkenswert, als es um die enge Verbindung von Politik und Wissenschaft geht.
Im Artikel »Irrationalität oder: Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?« entwickelt Feyerabend folgende zwei Überlegungen. Erstens: Die Wissenschaftler*innen besitzen die Vorherrschaft. Ihre Herrschaft nennt sich Rationalismus (und hatte ihren illustren Beginn mit Platon, der das Allgemeine gegenüber dem Konkreten installierte). Dieser Rationalismus ist (wie) Religion, eben »Vernunft-Religion«. Es gehe, so Feyerabend, beim Vorwurf von Irrationalität immer um eine Verteidigung dieser Vorherrschaft. Zweitens widmet er sich dem Vergleich des Allgemeinen, des Begriffs, mit dem Konkreten, dem situativen, täglichen Handelns in der Medizin. Somit steht eine klinische der systematischen, wissenschaftlichen, objektiven Medizin gegenüber (41). Während erstere induktiv auf Erfahrung beruhe, darauf aufbaue und reagiere bzw. sich ständig verändere, sei die zweite keine solche Kunst (techne) mehr, sondern ein System, ein Wissen (episteme), eine Doktrin – wie er mit dem Beispiel des Aderlasses verdeutlicht (49f.): Benjamin Rush zufolge sollte der Aderlass die Anspannung der Blutgefässe – gemäß der Doktrin die einzige existierende Krankheit – auflösen. Wenigstens für einige Dekaden sei dies in den Fachkreisen die vorherrschende allgemeingültige Ansicht gewesen. Statt einer komplexen vielfältigen Praxis aus Traditionen werde eine für alle Menschen gültige Theorie (ein Begriff) gesetzt: »Der Prozess des Krankseins wird aus seinem sozialen Zusammenhang gelöst.« (49) Gerade heute haben die (Natur)Wissenschaften Hochzeit. Sie sind die neuen Orakel.
Wenn der Vorwurf der Irrationalität aufkomme, so Feyerabend, sollten wir misstrauisch werden. Werde da nicht, so seine These, die Mündigkeit der Bürger*innen angegriffen? Für ihn ist der Begriff der Demokratie weiter zu fassen, und zwar im Sinne der Tradition der Aufklärung – insofern bleibt der Autor ein ambivalenter Aufklärer. Wenn Aufklärung der Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit ist, und wenn die Tradition des Rationalismus die Menschen ironischerweise gängele, dann läge darin für Feyerabend ein entscheidender – ganz ernst gemeinter – Imperativ: den Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit durch demokratische Institutionen und Forderungen offen zu halten. In der aufklärerischen Tradition liegt also nicht nur ein Widerspruch, das allgemein als objektiv geltende Rationale und zugleich die Selbstermächtigung zu bestimmen; in ihr liegt zudem das, was irrational ist: »Die Vorwürfe der Irrationalität, die man von seiten der Wissenschaften, oder einer den Wissenschaften dienenden Philosophie hört, sind damit zum Grossteil Manifestationen der inneren Irrationalität des wissenschaftlichen Unternehmens selbst […].« (54)
Betrachtet man vor diesem Hintergrund die Situation und Massnahmen um Sars-Cov-2 bzw. Covid-19, dann lässt sich fragen: Was geschieht angesichts eines Undurchsichtigen, Unverstandenen, Irrationalen, als welches die Krankheit und ihre Übertragungswege konnotiert sind? Was sind rationale Massnahmen? Was ist politisch vertretbar? Was ist vernünftig? Genau dies bleibt selbst undurchsichtig, unverstanden. Aber wer kann und darf wie darüber entscheiden? Darin liegt wohl eine erhellende Schwierigkeit der Ereignisse um Sars-Cov-2 bzw. Covid-19: Wie rational sind die Entscheidungen von Regierungen, die auf Prognosen/Empfehlungen von Virolog*innen und Epidemolog*innen beruhen? Wie irrational ist der Widerspruch, der dagegen laut werden könnte? Oder eben: Wer vermag dies zu bestimmen?
Aber, so könnte man demgegenüber geltend machen, werden die im Netz kursierenden mannigfaltigen Erklärungen für das Sars-Cov-2 bzw. Covid-19 durch Feyerabends Positionen nicht legitimiert? Das würde jedoch seiner Position nicht gerecht. Vielleicht hätten ihn weniger die mannigfaltigen Erklärungen interessiert, sondern vielmehr, wie der wissenschaftliche (und politische) Rationalismus in diesen Gefechten an zwei Fronten auf das Irrationale als Nonsense (z.B. unsinnige Verschwörungstheorien) und als das Fremde, Andere, Unerklärliche reagiert (d.h. die vielen Unklarheiten, die in der Erforschung von Sars-Cov-2 bzw. Covid-19 weiterhin bestehen). Oder etwas anders mit Feyerabend verdeutlicht, der in einem Interview auf die Frage hin, ob an Schulen neben dem Darwinismus auch der Kreationismus gelehrt werden könnte, provokativ geäußert hatte: »Why not?! Why not? Look, lots of nonsense is taught in school […] so much garbage is being put in the brains, so It doesn’t really matter, I mean, if you use a little of the other garbage and put that in, if you think it is garbage. So, why be so selective?« Dass in Bezug auf Sars-Cov-2 bzw. Covid-19 mannigfaltige Erklärungen viral sind – allerdings auch viel »garbage« –, macht es demnach nur umso drängender, die sozialen, die politischen Verhältnisse zu perspektivieren. Feyerabends Absicht, den Rationalismus in seine gesellschaftlich-geschichtlichen Schranken zu weisen (als eine Tradition unter vielen), bedeutete allerdings wohl nie, dass damit jede Erklärung berechtigt ist, sondern lediglich, dass jede Erklärung im Reigen der Welterklärungen Ansprüche auf den Titel »Wahrheit« erheben könnte – aber wohl immer noch im Sinne einer besseren Erklärung unter anderen Erklärungen und eben nicht in dem Sinne, dass jeder »garbage« als wahr gilt, sondern wiederum zu prüfen ist. Feyerabend war insofern ganz bescheiden.
Feyerabends Gegenüberstellungen von Begriff vs. konkretes Handeln bzw. klinische vs. objektive Medizin spielen heute wieder eine wichtige Rolle. Auch wenn man Feyerabend in diesen Gegenüberstellungen vorwerfen könnte, dass er den Dualismus von Theorie und Praxis nicht hinterfragt, bleibt die Frage, die er erhebt, virulent: wie sich die Wissenschaften in der Politik offenbaren oder umgekehrt wie die Politik der Wissenschaften wirksam wird. Sie zeigt, wie ein wissenschaftlicher Rationalismus über die Sphäre des politischen Agons herrscht, indem die Medizin, genauer die Epidemolog*innen und Virolog*innen, gravitätisch oder eher grafisch ihre Mahnfinger heben. Unverstandenes liegt zwar offen zu Tage, wird aber oft in weissbemäntelter Wissenschaftlichkeit kaschiert. Diese Aufklärung wäre nicht nur dialektisch zu begreifen, sondern auch epistokratisch – wie dies unlängst amerikanischer Logos wieder stark machte, wenn auch unter anderen Umständen eingeführt und verstanden.
Was aber die Polizei anbelangt, die dem «Reporter» Kopfzerbrechen verursachte, antwortete Feyerabend wie folgt – so wenigstens imaginierte es Duerr:
»Feyerabend: Also da brauchen Sie keine Angst zu haben. Schaun’s, ich kenne persönlich eine Reihe sehr netter Polizisten, Leute mit einem Spektrum, das Sie vergeblich im Seminar vom Ayatollah Popper suchen werden.«
Herzlichen Dank an Insa Härtel und Julia Boog für Ihre Überlegungen und Verbesserungen!
Paul Feyerabends »Irrationalität oder: Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?«