Donna Haraways Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän wiedergelesen, Teil 1

2016 – »Immer wenn mir eine Geschichte dabei hilft, mich zu erinnern, was ich glaubte zu wissen, macht jener Muskel, der für die Sorge um das Gedeihen zuständig ist, Gymnastik«

Donna Haraways Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän wiedergelesen, Teil 1

Von Katrin Solhdju

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Donna J. Haraways Unruhig bleiben: Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän

 

»Wir alle auf Terra leben in unruhigen Zeiten, in aufgewirbelten Zeiten, in trüben und verstörenden Zeiten. Die Aufgabe besteht nun darin, reagieren zu können, und zwar gemeinsam und in unserer je unbescheidenen Art.« Dieser ersten Aufgabe, auf die Donna Haraway uns auf »Terra« Lebende verpflichtet, weil wir vielfache Verwüstungen beerben, folgt eine zweite auf dem Fuße: »Die Aufgabe besteht darin, sich entlang erfinderischer Verbindungslinien verwandt zu machen und eine Praxis des Lernens zu entwickeln, die es uns ermöglicht, in einer dichten Gegenwart und miteinander gut zu leben und zu sterben. Es ist unsere Aufgabe, Unruhe zu stiften, zu wirkungsvollen Reaktionen auf zerstörerische Ereignisse aufzurütteln, aber auch die aufgewühlten Gewässer zu beruhigen, ruhige Orte wieder aufzubauen.« (9)

In Unruhig bleiben geht es Haraway darum, entlang von Erzählungen über einige solcher Verbindungslinien Elemente bereitzustellen, von denen wir lernen können, schlechten Handlungs- und Denkgewohnheiten, mit ihren Tendenzen zur Reduzierung und Entleerung der Wirklichkeit zu widerstehen. Anstatt sich damit zu begnügen, schlechte Gewohnheiten anzuprangern und kritisch zu beleuchten, geht Haraway einen anderen Weg. Sie fordert ihre LeserInnen durch einen quasi-literarischen, sinnlichen und humorvollen Schreib-Überredungsstil heraus und zieht sie in einen Prozess hinein, der nicht nur mit neuen Gewohnheiten des »Machen-Denkens« konfrontiert, sondern Schritt für Schritt an eine semiotisch-materielle Realität mit unendlich vielen zusätzlichen »ontologischen und epistemologischen Möglichkeiten« (175) gewöhnt.

Mit seiner zuweilen beschwörenden Tonalität hat Unruhig Bleiben eine aktivierende Wirkung: ein bisschen wie Musik aus einer unbekannten Welt, die mit ihrer zunächst befremdlichen Melodie, ihren Refrains und Ritornellen gefangen nimmt und einlädt, sie aufzugreifen, zu variieren und mitzusummen. Stellen Sie sich das Buch als eine Sammlung von Gesängen vor, die ein Übergangsritual begleitet. Ein Ritual das es den SängerInnen erlaubt, andere Modi des Daseins aufzunehmen, zu erproben, einzuüben. Modi, die sich dadurch auszeichnen, besondere Arten von Aufmerksamkeit, Fühlen, Empfinden und Denken miteinander zu verbinden und so ihren Teil dazu beitragen, kollektiv und kollaborativ Fluchtlinien und -stätten für ein möglichst gutes Zusammenleben und -sterben auf Terra zu schaffen; nicht indem sie soziale, ökologische und (post)koloniale Verwüstungen leugnen, sondern vielmehr ihnen zum Trotz. Haraway erzählt anhand ganz unterschiedlicher Materialien Geschichten von mehr oder weniger gelungenen Prozessen des Verwandtmachens (kin-making) zwischen verschiedenen Akteuren: zellulärer, bakterieller, viraler, tierischer, menschlicher und mehr-als-menschlicher Natur. Was aber steht in der aktuellen Lage auf dem Spiel, wenn nicht das Feintuning möglichst wenig zerstörerischer Prozesse, die es Wissenschaft und Politik, Ökologie und Ökonomie ebenso wie unseren Körpern und Immunsystemen erlauben, sich mit dem neuen Coronavirus verwandt zu machen?

Ohne jemals die gewaltsamen Aspekte aktueller Verhältnisse auszublenden – Haraway bleibt ihrer Devise radikal treu, dass es unschuldige Positionen niemals gibt oder geben kann –, führt sie vor, welche Formen ein irdisch und historisch verankertes Verantwortlich-Werden, das heißt im wortwörtlichen Sinne Antwortfähig-Werden annehmen kann. Sie schreibt damit gegen unverantwortliches dumm-hoffnungsvolles und geschichtsblindes business as usual ebenso an wie gegen jegliche Art fatalistischen Zynismus. Unruhig bleiben ist eine Bestandsaufnahme von begrifflichen, künstlerischen, wissenschaftlichen und aktivistischen Praktiken, denen eine Annahme gemeinsam ist: Dass modernistische Kategorien szientistischer, individualistischer, kolonialer oder neoliberaler Färbung schlicht unhaltbar geworden sind. »Was passiert, wenn menschlicher Exzeptionalismus und eingeschränkter Individualismus, diese vertrauten Spielwiesen westlicher Philosophie und politischer Ökonomie, in den besten Wissenschaften – egal ob Natur- oder Sozialwissenschaften – undenkbar werden? Ernsthaft undenkbar: nicht mehr für das Denken zur Verfügung stehend.« (87)

Das Projekt in Abwesenheit solcher Kategorien antwortfähig zu werden, ergibt kein Kochrezept; vielmehr bedarf es eines je neu auszurichtenden Vorgehens, für das Haraway das vieldeutige Akronym SF vorschlägt – ein Vorschlag, der ihre Gegenstände ebenso meint, wie er ihr Forschungsvorgehen und Schreiben ausrichtet. SF steht für so unterschiedliche Dinge wie »Science Fiction, spekulative Fabulation, Spiele mit Fadenfiguren (string figures), spekulativer Feminismus, science fact (wissenschaftliche Fakten), so far (bis jetzt)« und rückt diese in eine oft unwahrscheinliche, aber gerade dadurch fruchtbare Nähe zueinander.

»Wissenschaftliche Fakten und spekulative Fabulation brauchen einander und beide brauchen einen spekulativen Feminismus. SF und Fadenspiele denke ich im dreifachen Sinn als Figurationen. Erstens zupfe ich großzügig Fasern aus verklumpten und dichten Ereignissen und Praktiken heraus. Ich versuche, den Fäden zu folgen und die Spuren so zu lesen, dass ihre Verwicklungen und Muster entscheidend dafür werden, wie wir an wirklichen und spezifischen Orten, in wirklichen und spezifischen Zeiten unruhig bleiben können. So verstanden ist SF eine Methode des Nachzeichnens, des Verfolgens eines Fadens in die Dunkelheit, in eine gefährlich wahre Abenteuergeschichte hinein, in der vielleicht klarer wird, wer für die Kultivierung artenübergreifender Gerechtigkeit lebt oder stirbt und warum. Zweitens ist SF nicht nur die Methode des Nachverfolgens, sondern das Ding an sich: jenes Muster und jene Versammlung, die eine Antwort verlangen; das Ding, das man selbst nicht ist, aber mit dem man weitermachen muss. Drittens bedeutet SF weitergeben und entgegennehmen, herstellen und aufheben, Fäden aufnehmen und fallen lassen. SF ist eine Praxis und ein Prozess, ein Werden-mit-anderen in überraschender Aufeinanderfolge, eine Figur des Fortdauerns im Chthuluzän.« (11)

Entsprechend funktioniert das Buch als Fadenspiel, das dazu einlädt, die Argumentation an der einen oder anderen Stelle aufzunehmen und weiterzuspinnen. Das führt die Idee einer Zusammenfassung schon der Form nach ad absurdum. In Anbetracht der Herausforderungen der Pandemie möchte ich nur einige der von Haraway ausgeworfenen Fäden (Erzählungen/Begriffe/Mottos) aufnehmen und ein bisschen weiterspinnen; als eine Einladung zum Nachlesen und Weiterfädeln.

Erster Faden: »Es ist von Gewicht, welche Geschichten Geschichten erzählen, welche Konzepte Konzepte denken. Mathematisch, bildlich und erzählend ist es von Gewicht, welche Figuren Figuren figurieren, welche Systeme Systeme systematisieren.« (139) Der Diskurs zählt! Und zwar weil, Haraway zufolge, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln Wege identifiziert und vermehrt werden müssen, die dazu beitragen können in den »Ruinen des Kapitalismus«, Zeitorte des Möglichen zu kultivieren: solche des Erinnerns, des Kom-memorierens, des Wiederauflebenlassens, um Kontinuität und gedeihende Formen des Zusammenlebens zu ermöglichen. Dazu müssen wir unter anderem lernen, die Erzählung zu ändern: »Die Geschichten des Anthropozäns und des Kapitalozäns taumeln ständig an einem Rand entlang und laufen Gefahr, viel zu groß zu werden.« (74) Zu groß, insofern diese Großbegriffe die Perspektive so einstellen, dass es beinahe unmöglich wird, Momente, Handlungen, materielle, aber auch imaginative Praktiken gegenwärtig zu halten. Mit ihren zu großen Geschichten haben sie daher die Tendenz, den Blick für das Aufschimmern von Möglichem zu verstellen, wohingegen es Haraway darum geht, ein Sensorium für das Er- und Aufspüren solcher Momente zu kultivieren. Den zu großen Geschichten setzt Haraway aber keine Mikrogeschichten entgegen, sondern solche »die gerade groß genug sind«, ein Begriff, den sie von ihrem Kollegen James Clifford übernimmt. Es sind Geschichten »die groß genug sind; die dazu in der Lage sind, für vieles Rechenschaft abzulegen, aber nicht für alles.« (253)

Der Untertitel des Buches Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän wird vor diesem Hintergrund verständlich. Das von Haraway proklamierte Chthuluzän bezeichnet einen Zeiten und Räume übergreifenden, weder rein fiktionalen noch rein faktischen, oszillierenden Zeitort, den sie den Großerzählungen zur Seite stellt. Haben jene eine gewisse Robustheit, muss das Chthuluzän gehegt und umsorgt, permanent hergestellt bzw. bevölkert und kollektiv kultiviert werden, um es vor dem Verschwinden zu schützen: ich »entwerfe einen Namen für ein Anderswo, für ein Anderswann, das war, immer noch ist und sein könnte: das Chthuluzän.« (49) »Vielleicht, und nur vielleicht, und nur durch großes Engagement und intensive kollaborative Arbeit (und kollaboratives Spiel) mit anderen Erdlingen, ist das Gedeihen von reichhaltigen, artenübergreifenden Gefügen, die auch uns Leute umfassen, weiterhin möglich. Dies alles nenne ich das Chthuluzän – vergangen, gegenwärtig und kommend” (139) Das Chthuluzän mit all den mythologischen Figuren – Medusa-Gorgone, irdische Spinnen und Sym-Wesen – die Haraway für seine Verankerung in der Wirklichkeit aufruft, fungiert als effizientes Verknüpfungsswerkzeug: Es erlaubt Haraway Verbindungen zwischen uralten und zeitgenössischen Praktiken ebenso herzustellen, wie solche zwischen biologischer Wissensproduktion und politaktivistisch-künstlerischen Praktiken insofern sie alle mit Formen irdischer, chthonischer, sympoietischer Kollaboration experimentieren. Die Wette des Chthuluzän-Vorschlags besteht darin, dass er eine (Erzähl)Perspektive einzieht, die sich dadurch auszeichnet, die Aufmerksamkeit nach unten, rückwärts und seitwärts auf die Erde und ihre mythologischen und biologischen Geschöpfe und Praktiken zu richten. Auf Praktiken und Existenzweisen, die in den »zu großen Geschichten« (des Anthropozäns, Kapitalozäns usw.) keinen Platz haben. Damit wird ein neuer Raum für das Handeln und die Vorstellungskraft eröffnet – nicht eskapistisch, sondern im Gegenteil, erdgebunden, radikal realistisch. Haraway appelliert an uns, uns den Potentialen des Denkens, der umsichtigen Fabrikation begrifflicher Abstraktionen und vor allem des Geschichtenerzählens anzuvertrauen; ihrem Potential, unsere Gewohnheiten zu unterbrechen und uns angesichts unserer vertrauten Weltbilder zögern zu lassen. Darin besteht zumindest eine jener Strategien derer wir dringend bedürfen, um »das Anthropozän so kurz/so dünn wie nur möglich zu halten und miteinander auf jede vorstellbare Art und Weise kommende Epochen zu kultivieren, in denen Refugien sich wiederbeleben können.« (139)

Zweiter Faden: Es fehlt an Zufluchtsorten für menschliche, nicht-menschliche und mehr-als-menschliche Wesen gleichermaßen: physische Zuflucht im Sinne ökologischer Nischen als Voraussetzung für das Überleben jeder Spezies, aber auch imaginative Zuflucht, die es uns erlaubt, Orte zu bewohnen, die man mit Recht als Heimat bezeichnen könnte. Die Wiederbelebung von Zufluchtsorten erfordert Reaktivierungen abgerissener Traditionen ebenso wie imaginativ spekulative Elemente und Geschichten. Von zentraler Bedeutung sind hierfür historische Praktiken des Erinnerns, des Kom-memorierens, der Reaktivierung, der Wiederbelebung, der Wiederaufnahme, der Wiedererlangung, der Rückgewinnung, der Rückforderung; aber auch die Kunst des Fabulierens. Denn wie wir die Vergangenheit und die Gegenwart beerben und erzählen, ist von existenzieller Bedeutung, wenn es um die Frage geht, was wir werden weitergeben können. Es geht könnte man sagen Haraway darum responsabel zu werden bezüglich der Frage: »Wisst ihr, was ihr getan habt?« Diese Frage insistiert, wie eine der treuen Denkgefährtinnen Haraways, Isabelle Stengers es formuliert, angesichts der unbestreitbaren Tatsache, dass unsere Kinder und Kindeskinder »in den Ruinen dessen zu leben haben werden, was wir Fortschritt nannten.« »Die Antwort, die wir ihnen werden geben können die Art und Weise auf die wir uns dazu in die Lage versetzt haben werden, zu antworten, wird Teil dessen sein, was wir ihnen hinterlassen: Gift der Verzweiflung und der Verantwortungslosigkeit oder aber Mut, die Differenz zu erfinden zwischen reinem Überleben, jeder für sich, und, komme was da wolle, Leben.«

–> Teil 2

 

Donna J. Haraway: Unruhig bleiben: Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän, Campus: Frankfurt a. M. 2018.