430 v. Chr. — Die Seuche von Athen
Thukydides »Der Peloponnesische Krieg« wiedergelesen
Von Andreas Gehrlach
Thukydides »Der Peloponnesische Krieg«
Der Peloponnesische Krieg von Thukydides ist eine Darstellung des Krieges. Nicht nur eines bestimmten Krieges zwischen dem städtischen, offenen, liberalen, demokratischen und imperialen Athen und dem militaristischen, fremdenfeindlichen, autoritären, aber freiheitsliebenden Sparta, sondern eine Darstellung von Krieg als solchem. Thukydides wollte nicht irgendeinen Ägäis-Konflikt zwischen zwei Stadtstaaten der Eisenzeit beschreiben, sondern das Universale des Krieges. Dasselbe gilt auch für die Teilnehmer dieses Krieges: Die Personen, ihre Handlungsweisen, ihre politischen Reden, all das ist typisiert. Für die gehaltenen Reden und Debatten macht Thukydides dies am deutlichsten explizit: Den »genauen Wortlaut im Gedächtnis zu behalten war schwierig« (23), so sagt er, und teils gab es auch gar keine Zeugen, die Thukydides befragen konnte. Deswegen geht er anders vor: »Wie aber meiner Meinung nach jeder Einzelne über den jeweils vorliegenden Fall am ehesten sprechen musste, so sind die Reden wiedergegeben unter möglichst engem Anschluss an den Gesamtsinn des wirklich Gesagten.« (ebd.) Diese schwer zu definierende ›historiographische Poetologie‹ des Thukydides kann als Typisierung, Universalisierung oder auch als Objektivierung oder Idealisierung gefasst werden: Es geht nicht in erster Linie um das, ›was wirklich geschehen ist‹, sondern darum, was sich in einem Konflikt zwischen Menschen immer wieder so ereignet, um Auseinandersetzungen, die so oder ähnlich immer wieder geschehen, Rechtfertigungen, die vorgebracht und Argumente, die ausgetauscht werden und um Handlungsweisen, die so zu allen Momenten der Geschichte auffindbar sind.
Diese allgemeine Darstellung der Geschichte und menschlichen Handelns überhaupt ist nicht nur Thukydides’ explizites Programm, sondern so wurde dieser Text immer gelesen, und so kann er heute noch gelesen werden: Man kann statt ›Athen‹ ›die USA‹ einsetzen und statt ›Sparta‹ ›Russland‹, und der Text erhält eine überzeichnete und abstrakte, aber ebenso grelle und bestechende Aktualität. Man kann in der Strategie und Selbstrechtfertigung Spartas und seiner Verbündeten die Achsenmächte erkennen und in Athen die Alliierten. Athen kann für ›die liberale Gesellschaft‹, für die demokratische, republikanische oder sozialistische Fraktion stehen und Sparta für die AfD, die oligarchische, feudale oder neoliberale Fraktion – nie vollständig und bruchlos, aber die Muster, die dort auftauchen, sind in den 700 Seiten, die Thukydides vor 2400 Jahren geschriebenen hat, bereits abgebildet. Damit ist der Peloponnesische Krieg eher eine Art berichtend-anthropologisierende Geschichtsphilosophie als im strengen Sinn Historiographie. Diese »Idealisierung« ergibt keine strahlenden Helden, glorreichen Schlachten und rhetorisch brillanten Reden, sondern Thukydides’ Darstellung wirkt eher wie ein mit einem harten Licht beleuchteter Realismus, in dem die Schrecken des Krieges ebenso unbarmherzig herausgestellt wurden wie die unmoralischen Anstrengungen und Verfehlungen aller Beteiligten in diesem Krieg. Diese leicht paradoxe ‚Idealisierung des Realistischen‘ ist es, was Thukydides aber so lesbar macht und was seinen Text zu einem »Besitz für immer« macht statt nur zu einem »Glanzstück für einmaliges Hören« (24), wie er es selbst formuliert.
Die Reden und Schlachtbeschreibungen sind gnadenlose Dokumente des Machtwillens oder Verteidigungsversuche gegen übermächtige Feinde. Thukydides betreibt keine Dualisierung in Gut und Böse, sondern es wird möglich, die Verwicklungen und Widersprüche aller Akteure zu erkennen: Niemand in diesem Krieg ist unschuldig oder ›rein‹, alle leben in einer Welt schmutziger, gewaltdurchdrungener Realpolitik. Wo Sparta Gewalt internalisiert hat, hat das scheinbar friedlichere Athen sie nur in sein Imperium getragen.
Das gibt dem Text eine faszinierende Aktualität, die dafür gesorgt hat, dass er nach wie vor auf Militärakademien und in Politikseminaren gelehrt wird: Thukydides bildet Haltungen, Strategien, Argumentationsformen und realpolitische Handlungsweisen ab, die über 2500 Jahre so stabil geblieben sind, dass heute noch die Struktur dualer Konfliktpartner darin erkannt werden kann, die einander nicht nur feindselig sind, sondern die sich auch in allem als das Gegenteil ihres Feindes definieren. Thukydides geht in dieser Typisierung aber sogar noch einen Schritt weiter und beschriebt nicht nur das Universale des Krieges, sondern legt auch eine erste Definition der »menschlichen Natur« vor, die in seinen Augen eine starke Herrschaft braucht, um sie unter Kontrolle zu halten. Diese Definition des Menschen als ›herrschaftsbedürftig‹ war äußerst einflussreich; so war es z.B. Thomas Hobbes, der eine erste Übersetzung des Peloponnesischen Krieges ins Englische vornahm. Hält man sich dies in der Lektüre des Leviathan präsent, werden viele Abschnitte darin als Kommentare zu Thukydides lesbar. Gegen Thukydides’ Bestimmung der Natur des Menschen gibt es aber auch Einwände, deren schärfster wahrscheinlich von Marshall Sahlins formuliert wurde, dessen Buch über The Western Illusion of Human Nature (Chicago 2008) eine Frontalstellung zu fast allem ausdrückt, wofür Thukydides und Hobbes stehen.
Nach etwa dreißig Jahren verlor Athen den Krieg gegen Sparta. Die Ursachen dafür sind zahlreich, unter anderem ein überdehntes Imperium, die Unterschätzung des Persischen Reiches, dauerhafte Gegner der Demokratie im Inneren – oligarchische Populisten, wie wir sie heute auch noch kennen. Nicht zuletzt aber auch eine Seuche, die im Jahr 430 v. Chr. aus dem Osten des Mittelmeeres in Attika eingeschleppt wurde. Es war nicht allein diese Seuche, die die athenische Demokratie zerstörte, wie es z.B. von Robert Zaretsky stark gemacht wird, aber sie trug wesentlich dazu bei, dass das Staatswesen von Athen durch Sparta übernommen und mit Unterstützung der athenischen Oligarchen neu organisiert werden konnte.
Die Beschreibung und der Verlauf der in Athen wütenden Seuche sind von einer fast unheimlichen Ähnlichkeit mit Beschreibungen anderer Pandemien, und ebenso wie jedes Nachdenken über Kriege ein thukydideisches Nachdenken ist, ist seine Beschreibung der athenischen Krankheit so prägend gewesen, dass sie als Modell für Seuchen überhaupt gelten kann – man meint fast, darin eher etwas von der Art einer Pandemiesimulation zu sehen, die den typischen Verlauf einer sich ungebremst ausbreitenden Seuche demonstriert. (145–151) Besonders interessant ist dabei: Die konkreten Krankheitssymptome, die Thukydides beschreibt, ergeben kein klares Bild und es ist bis heute unklar, welcher Erreger es war, der ein Viertel der Athener Bürger*innen tötete. Diese deskriptive Unschärfe und Stilisierung hat dazu geführt, dass jede Zeit darin genau diejenige Krankheit erkannte, die für sie selbst die bedrohlichste war: Pocken, Masern, Typhus, die Beulen- oder Lungenpest, Ergotismus, Leptospirose, Ebola oder Grippe sind nur einige der um die dreißig Beispiele an Krankheiten, die darin zu unterschiedlichen Zeiten gesehen wurden, und eine Interpretation als eine Variante des SARS-Covid-Erregers ist noch zu erwarten oder bereits geschehen. Insbesondere die Assoziationen zur so genannten Spanischen Grippe und zu den verschiedenen Formen der Pest wurden immer wieder bemüht. Endemische Krankheitsphänomene werden seitdem immer im Spiegel der athenischen Seuche gelesen: Lukrez’ atomistische Erklärung von Epidemien in De rerum natura, Daniel Defoes A Journal of the Plague Year über die verheerende Pest in London und noch Albert Camus’ Die Pest beziehen sich auf Thukydides. Dass die Krankheit von Athen eine solche »Universalseuche« werden konnte, liegt aber nicht nur an der Ungenauigkeit der medizinischen Symptomlage oder an Thukydides’ perspektivsetzender Beschreibung, sondern auch daran, dass er die individuellen und gesellschaftlichen Reaktionsweisen auf Krankheit so genau beobachtet hat: Enge und Wohnungsnot der unteren Schichten, Fluchtbewegungen auf das Land und in die Städte, um sich greifende Angst und Irrationalität, verfehlte oder verzögerte Politiken der Krankheit, wie z.B. im Bereich der Totenbestattung und der Isolierung der Kranken, sprachliche Missverständnisse, medizinische Fehldiagnosen, ökonomische, hygienische, religiöse, politische und diskursive Folgeprobleme, die besondere Betroffenheit des medizinischen Personals und dass zu viel gefeiert wurde, anstatt sich zurückzuziehen – all das ist in Thukydides Darstellung dieser Endemie bereits gegeben.
Thukydides hat im Peloponnesischen Krieg eine Beschreibung einer Seuche vorgelegt, die eine unbewusste oder explizite Referenz des Nachdenkens über endemische oder pandemische Krankheitsphänomene widerspiegelt; auf eine Weise ist seine Darstellung nicht historisch, sondern zeigt eine Art Ursprungsmythos der menschlichen Angst vor Pandemien auf, ähnlich wie Sigmund Freud das Geschehen zwischen Ödipus und seinen Eltern zu einem wissenschaftlichen Referenzmythos intergenerationaler Konflikte gemacht hat. Jeder kulturwissenschaftliche, soziologische oder gesellschaftspolitische Text, der gegenwärtig in den Feuilletons über Covid-19 erscheint, ist ein indirekter Nachfolger von Thukydides’ Beschreibung der Seuche von Athen.