Roberto Espositos »Immunitas. Schutz und Negation des Lebens« wiedergelesen

2002 — Die autodestruktive Dynamik der Immuno-Logik

Roberto Espositos »Immunitas. Schutz und Negation des Lebens« wiedergelesen

Von Karin Harrasser

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Roberto Esposito »Immunitas. Schutz und Negation des Lebens«

 

Roberto Espositos »Immunitas. Schutz und Negation des Lebens« erschien auf Italienisch 2002. Es ist im Resonanzraum der AIDS-Krise entstanden und hat deshalb die selbstzerstörerischen Kräfte des immunologischen Diskurses im Blick. Autoimmunerkrankungen, also solche, in denen das Immunsystem überschießt und den Organismus zu schädigen beginnt, haben seither große Aufmerksamkeit erhalten, nicht zuletzt aufgrund der Omnipräsenz von Allergien (wörtlich: Fremdreaktion) auch in der alltäglichen Rede vom Körper. Espositos geduldige und genaue Arbeit an philosophischen, anthropologischen und biologischen Texten der letzten 2000 Jahre arbeitet den fundamental antisozialen Charakter von Immunisierungsdiskursen heraus. Als ihren grundsätzlichen Mechanismus identifiziert er die dosierte und kontrollierte Hineinnahme des Fremden, des das Ganze Gefährdenden, des Feindes, des Risikos bei gleichzeitiger äußerer Abschottung. Aus dem biomedizinischen Bereich ist dieses Vorgehen in Form der Impfung bekannt, als Gabe von kleinen Dosen des Erregers zur Aktivierung des Immunsystems. Ist es dieses Muster, ins Politische gewendet, dem die derzeit angewendeten biopolitischen Maßnahmen unterliegen? Ja und nein: Die rigide Schließung der Grenzen, die Errichtung von Sperrzonen um Gefährdete (also: alle, also: »social distancing«) zum einen, Spekulationen über das Erreichen des notwendigen Grades an „Durchseuchung“ und von »Herdenimmunität«, die fieberhafte Suche nach Impfstoffen zum anderen. Die ergriffenen Maßnahmen referieren, so scheint es, auf unterschiedliche historische Situationen und Epistemologien. Man hat den Eindruck, dass in Anbetracht der Unübersichtlichkeit der Lage sehr verschiedenes mobilisiert wird: Von eher an die Pest gemahnenden Isolierungsaktionen bis hin zu den semi-durchlässigen, auf präzise Eingrenzung zielende Strategien moderner Immunologie.

Interessant ist nun, dass Esposito seine Studie nicht mit der modernen Medizin beginnt, sondern mit Politik und Recht, genauer mit der Immunität von Amtsträgern. Das lateinische munus bedeutet Amt, Aufgabe, Last, Pflicht, Verpflichtung, Obligation, auch im Sinne der rückzuerstattenden Gabe (12). Communitas bezeichnet folglich die sich gemeinsam auferlegte Verpflichtung. Mit Simone Weil arbeitet Esposito heraus, dass das Recht jener Mechanismus ist, der der wechselseitigen Verpflichtung einen individuellen Anspruch gegenüberstellt: Meine Verpflichtung auf das Gegenüber ist sein/ihr Rechtsanspruch. Im positiven Rechtsanspruch wird die wechselseitige Verpflichtung individualisiert, eingekapselt, begrenzt auf ein Individuum und sein Recht. Dieses wird abgesichert durch das Gewaltmonopol, dadurch, dass eine definierte Gruppe ungestraft Gewalt ausüben darf. So nistet sich die Gewalt, gegen die das Recht eigentlich immunisieren möchte, im Inneren der communitas ein. Sie besiedelt den Raum der geteilten Verpflichtungen. Esposito hält fest: »Immun ist, wer die Pflichten der Bürgerschaft oder der Gesellschaft nicht leistet; wer bar jener gesellschaftlichen Pflichten ist, die allen gemein sind.« (13) Dieser Vorgang wird in der Immunität qua Amt besonders augenfällig. So waren in Rom die Ärzte immun und zwar in dem Sinn, als dass sie aufgrund der ärztlichen Privilegien, die es ihnen erlaubten, Zahlungen für Behandlungen zu empfangen, kein öffentliches Amt antreten durften. Und dass sich mit der Immunität gegenüber Strafverfolgung qua Amt ein potentieller Missbrauch von Macht im Innersten des Gemeinwesens aufhält, ist evident. Mechanismen der Immunisierung versuchen also im Raum des Politisch-Rechtlichen durch das Einbringen einer kleinen Menge von Gewalt mögliche Exzesse und das Auseinanderfallen des Ganzen (oder das Übereinanderherfallen, wie sich noch zeigen wird) präventiv zu neutralisieren.

Esposito arbeitet im Weiteren heraus, wie zentral das Immunisierungsdenken für die negative Anthropologie der politischen Theorie ist. Thomas Hobbes’ Leviathan ist dabei die bekannteste und wirkmächtigste immunologische Figur, die freilich auf ältere, aus der Religion herrührende Mechanismen der Opferung des Einzelnen für das Gemeinwesen zurückgeht. In Hobbes’ Variante ist es die Angst, die in kleinen Mengen stimuliert wird, um die Konzentration von Gewalt auf den Souverän zu rechtfertigen. Es ist bekanntlich nicht der reale Krieg aller gegen alle, sondern die schiere Möglichkeit, dass das Gegenüber in Zukunft Übles tun könnte, die den Kontrakt der Gewaltmonopolisierung auf den Souverän besiegelt. Die Theorie und Praxis der Volkssouveränität ist also präventiv und entspricht exakt der Logik der ausschließenden Einschließung: Um zukünftige Gewalt zu verhindern, wird diese in der Staatsgewalt klein dosiert omnipräsent. Umgekehrt steht der Souverän durch den Gesellschaftsvertrag außerhalb der wechselseitigen Verpflichtungen, ist also immun.

Hier wird außerdem deutlich, dass es nicht der Krieg zwischen agonalen Lagern ist, der den operativen und symbolischen Raum des Immunologischen bildet, sondern der Bürgerkrieg. Damit ist schon ein Hinweis auf das gegeben, was die Grenze des Immunologischen ist: Seine drift zu Autoaggression und Entropie im Namen der Vorsorge und des Schutzes des Lebens. In der berühmten Figur des Leviathan auf dem Titelkupfer von Hobbes’ Schrift, dessen überzeitlicher Körper von den vergänglichen Körpern der Individuen gebildet wird, ist die Verfasstheit moderner Politik, die, hier folgt Esposito Foucault, Biopolitik ist, ins Bild gesetzt. »Gegenstand der Politik ist nicht mehr eine irgendwie geartete ‚Lebensform’, ein spezifischer Seinsmodus des Lebens, sondern das Leben selbst.« (157) Und zwar das biologische Leben im doppelten Sinn: Das körperliche Leben des Einzelnen, das „auf Dauer nicht mit dem Tod vereinbar“ ist (158) und das Prosperieren und Überleben des »Volkskörpers«. Dass dabei das Erste im Dienste des Letzteren steht, ist auch jenseits rassistischer Exzesse evident. Wohl kann, ja soll, der/die Einzelne, das individuelle Leben optimieren, aber stets mit Blick auf das Ganze. Deshalb sortieren und priorisieren kommunale Gesundheitssysteme mit Hilfe von Versicherungsgesellschaften und anderen Agenturen der Volksgesundheit. Auf grausamste und direkteste Art tun sie es in Krisenzeiten. Die Triage ist dabei aber nur die Spitze des Eisbergs: Wenn in den kaputtgesparten Gesundheitssystemen des globalen Nordens oder den nur rudimentär vorhandenen des globalen Südens selbstverständlich am ehesten diejenigen noch versorgt werden, die über die nötigen finanziellen Mittel verfügen, ist das mindestens ebenso sozialdarwinistisch wie die erste Phase der britischen Krisenbewältigungsstrategie.

Nach einem Durchgang durch die verschiedenen Überlagerungen von politischen und medizinischen Diskursen, die, wie Esposito luzide zeigt, insgesamt ein Kennzeichen des europäischen politischen Denkens sind, kommt er im Kapitel »Kriegsspiele« auf die Kernfrage seiner Studie: »In welchem Sinne aber konstituiert die Immunität das strategische Epizentrum der Gesellschaften von heute?« (214) Er führt vor, wie rhetorisch hochgerüstet der medizinische Diskurs der Immunologie ist, und dass er paradoxerweise eben deshalb angesichts der Realität von infektiösen Krankheiten droht zu kollabieren. Vorausgesetzt ist in der biomedizinischen Immunologie der individuelle Körper als integrales Ganzes, das sich mit dem Eindringen des Erregers in ein Schlachtfeld verwandelt. Schon eine kursorische Lektüre medizinischer und populärer Abhandlungen über Viren macht den manichäischen Charakter dieses Kampfes deutlich. Viren figurieren in dieser Erzählung als das ultimativ Böse. Sie erscheinen als allein auf Reproduktion programmierte, ewige Widersacher des Organismus. Entworfen wird ein hobbesianischer Naturzustand des Organismus. Ist die Körpergrenze einmal porös geworden, geht es Schlag auf Schlag: »Die Linie der Erzählung verläuft in dramatischem Crescendo von der Identifizierung des Feindes über die Aktivierung der Verteidigungslinien, den Gegenschlag, die physische Eliminierung der gefangenen Gegner bis hin zum Abtransport der Opfer vom Schlachtfeld.« (219) Mir scheint, dieser innere Krieg übersetzt sich derzeit etwas zu direkt auf die Medienbilder des Krisen(mis)managements: Absperrungen, Ganzkörpervermummung, Beatmungsmaschinen und Särge, die auf ihren Abtransport warten. Immerhin steht am Ausgang der immunologischen Erzählung ein temporäres happy end: Ist der Körper einmal immunisiert, hat er seine Unversehrtheit wiedererlangt und, doppelter Triumph: Der Feind kann ihm nichts mehr anhaben. Der von den fremden Eindringlingen befreite Körper geht als wahrer Siegfried aus dem Kampf hervor. Wäre da nicht die bereits angedeutete drift des Immunologischen hin zur Autodestruktion, Siegfrieds verwundbare Stelle liegt im Inneren, in der Funktionsweise des Immunsystems selbst. Mit der Autoimmunerkrankung HIV wurde diese Crux auch außerhalb der medizinischen Immunologie bekannt. Die Medizin kennt den Abwehrexzess von Organismen mindestens seit Paul Ehrlich, dem Erfinder der Chemotherapie, der 1906 den Begriff des ›horror autotoxicus‹ prägte. Nicht nur im Fall von AIDS, sondern auch im systemischen Lupus, in der Hepatitis, der Typ 1 Diabetes und der Multiplen Sklerose, um nur die bekanntesten zu nennen, schießt das Immunsystem über. Wenn man im Vokabular des Krieges bleibt: Den eindringenden Viren gelingt es durch mimetische Prozesse, durch Tricks in denen sie sich als das ›Eigene‹ tarnen, das Verteidigungssystem gegen sich selbst aufzubringen. Ein zellulärer Bürgerkrieg beginnt, der nur schwer unter Kontrolle gebracht werden kann. Das Schlachtfeld-Szenario verwandelt sich in eines von Spionage und Gegenspionage. Warum sollten angesichts dessen Behörden und Ämter nicht mit gewissermaßen kriminalistischen Kompetenzen ausgestattet werden, die die Innenräume unserer Körper überwachen, um den DoppelagentInnen auf die Spur zu kommen?

Im Zentrum des medizinischen Studiums von Autoimmunerkrankungen steht als Konsequenz eine Frage, die auch die Philosophie beschäftigt: Die der Erkennbarkeit von Eigen und Fremd. Der Immunologe Edward Golub stellt die Frage so, wie sie auch in einer Philosophie-Vorlesung gestellt werden könnte: »Einerseits haben wir gesehen, daß eine Erkennung des Selbst notwendig ist, aber auf der anderen Seite weiß man, daß die Reaktion auf das Selbst der Suizid sein kann.« (zit. n. Esposito, 230) Die avancierte Medizinforschung kommt also auf das Grundproblem zurück, das den immunologischen Denkstil seit 2000 Jahren heimsucht: Das Problematische des Gemeinsamen, der Ununterscheidbarkeit zwischen dem, was dazugehört und dem, was das Gemeinsame zu zerstören droht.

Esposito fragt im Ausgang, ob eine solche autodestruktive Lesart des Immunsystems (doppelt: als Organismus und als Gemeinwesen) die einzig mögliche ist. (231) Zunächst: Für die Studie selbst ist das nicht so wichtig. Sie legt die verschiedenen Bestandteile des immunologischen Diskurses systematisch und klar auseinander und dabei lernt die Leserin sehr viel, das dabei helfen kann, etwas besser zu sortieren, was in der aktuellen Krise an materiell-semiotischen Mustern aktiviert wird. Dennoch hofft frau natürlich, dass es noch eine andere Lesart des Immunologischen gäbe. Und in der Tat präsentiert Esposito eine. Es ist die von der Ausbildung von immunologischen »Toleranzen«. Donna Haraway hat darüber unter dem Slogan des »gemeinsamen miteinander Lebens und Sterbens« geschrieben, Jean-Luc Nancy hat darüber geschrieben, als er über die Ausbildung von »Toleranz« gegenüber seinem Herzimplantat schrieb, und jede Schwangerschaft legt lebhaftes Zeugnis davon ab, dass das Immunsystem Toleranz lernen kann und muss, sonst würde es den Embryo abstoßen. Das Ausbilden von Toleranzen wäre das medizinische Gegenstück zur wechselseitigen Anerkennung im politischen Diskurs. Die gemeinsame Linie dabei wäre, dass die Vorbedingung von Toleranz eine aktive, echte Wahrnehmung von Fremdheit ist, eine Sensibilität für das Nicht-Selbst, die es nicht klein macht, dosiert, sofort containen möchte. Die für jede/n zugängliche Quelle für eine solche aktive Wahrnehmung von Andersheit sieht Esposito in der Erfahrung der eigenen Endlichkeit: Ich weiß, dass ich früher eine andere war und ich weiß, dass ich einmal nicht mehr sein werde. Das eröffnet den Vorstellungshorizont für andere Mitseinsweisen.

Was Esposito also vorschlägt, ist die Abrüstung des immunologischen Diskurses und seine Öffnung auf die Anerkennung einer geteilten Endlichkeit hin. Das hieße, in etwas anderem Vokabular: Den Umgang mit dem Virus sozialisieren und kultivieren. Seine Existenz nicht wegerklären, aber seiner Rahmung als »Feind von außen, der möglichst schnell neutralisiert werden muss« widerstehen. Ich möchte hinzufügen: Aufmerksam zu bleiben für die destruktiven Dynamiken immunologischer Diskurse selbst, beispielweise für die Ungleichheit, die gerade jetzt in ihrem Namen in Kauf genommen und noch forciert wird. Wir brauchen eine solidarische Zukunft, denn das Nicht-Eigene wird nicht weniger werden, es als Feind einschließend auszuschließen ist nicht wünschenswert. Als Selbsttechnik könnte das heißen: Klarkommen mit Dividualität, mit mit-geteilter Individualität (248), anstatt verbissener Verteidigung einer als bedroht imaginierten Individualität. Vor dem Hintergrund der von Esposito dargelegten longue durée des immunologischen Denkstils mit seinen Verwachsungen und Verschleppungen zwischen verschiedenen Praxis- und Wissensfeldern wird jedoch auch deutlich: Ein Sprung ins Außen eines solchen Denkens wird nicht leicht zu bewerkstelligen sein, sich seiner Abgründe gewahr zu werden aber ein erster Schritt.

Vielen Dank an Katrin Solhdju und Nicola Condoleo für ihre wertvollen Hinweise und Verbesserungen.


Roberto Esposito »Immunitas. Schutz und Negation des Lebens«

 

Printausgabe und ebook von Diaphanes