Hannah Arendts »Vita activa« wiedergelesen

1958/60 — Der »Mindestabstand« und die »Aporien des Handelns«

Hannah Arendts »Vita activa« wiedergelesen

Von Christian A. Wollin

Die pandemische Wirklichkeit der vergangenen Monate hat in unsere Leben ein staatlich sanft sanktioniertes Gebot eingepflanzt, das schlicht »Mindestabstand« heißt. In Innen- wie Außenräumen, bei Behördengängen und beim Einkauf fordern Zettel, Schilder und Durchsagen uns dazu auf, ihn einzuhalten. Sein räumliches Maß bestimmt Kabinettssitzungen der deutschen Bundesregierung ebenso wie die prekäre Staffelung von Warteschlangen in Supermärkten und andernorts. Der ›Mindestabstand‹ ist die physische Distanz von anderthalb bis zwei Metern zwischen zwei Menschen, die das Risiko einer Ansteckung mit dem Covid19-Virus verringern soll – dies jedoch nur im Verbund mit dem Tragen einer »Mund-Nasen-Bedeckung« und guter Händehygiene.

Der ›Mindestabstand‹ zeigt die virologisch gebahnte Umkehrung und Suspendierung eines Begriffszusammenhangs an, der für Hannah Arendts politische Theorie entscheidend ist. Er findet sich in Vita activa oder Vom tätigen Leben (1960), als das Arendt ihr Hauptwerk The Human Condition (1958) ins Deutsche übersetzt und dabei teilweise erweitert hat. Mit parodistisch anmutender Deutlichkeit macht der ›Mindestabstand‹ jenes »Zwischen« negativ sichtbar, über dessen Denkfigur Arendts Vita activa das (politische) Handeln und Sprechen von zwei anderen »menschlichen Grundtätigkeiten«, dem »Arbeiten« und dem »Herstellen« (14), abgrenzt. Arendt entfaltet eine außerordentlich dichte Beschreibung dieses ›Zwischens‹, in dem und durch das allein Menschen im Handeln und Sprechen »die Gabe der Freiheit« (229) zu verwirklichen vermögen:

Handeln und Sprechen bewegen sich in dem Bereich, der zwischen Menschen qua Menschen liegt, sie richten sich unmittelbar an die Mitwelt, in der sie die jeweils Handelnden und Sprechenden auch dann zum Vorschein und ins Spiel bringen, wenn ihr eigentlicher Inhalt ganz und gar ›objektiv‹ ist, wenn es sich um Dinge handelt, welche die Welt angehen, also den Zwischenraum, in dem Menschen sich bewegen und ihren jeweiligen, objektiv-weltlichen Interessen nachgehen. Diese Interessen sind im ursprünglichen Wortsinne das, was ›inter-est‹, was dazwischen liegt und die Bezüge herstellt, die Menschen miteinander verbinden und zugleich voneinander scheiden. Fast alles Handeln und Reden betrifft diesen Zwischenraum, der ein jeweils anderer für jede Menschengruppe ist, so daß wir zumeist miteinander über etwas sprechen und einander etwas weltlich-nachweisbar Gegebenes mitteilen, für das die Tatsache, daß wir unwillkürlich in solchem Sprechen-über auch noch Aufschluß darüber geben, wer wir, die Sprechenden, sind, von sekundärer Bedeutung scheint. Dennoch bildet diese unwillkürlich-zusätzliche Enthüllung des Wer des Handelns und Sprechens einen so integrierenden Bestandteil allen […] Miteinanderseins, daß es ist, als sei der objektive Zwischenraum in allem Miteinander, mitsamt der ihm inhärenten Interessen gleichsam, von einem ganz und gar verschiedenen Zwischen durchwachsen und überwuchert, dem Bezugssystem nämlich, das aus den Taten und Worten selbst, aus dem lebendig Handeln und Sprechen entsteht, in dem Menschen sich direkt, über die Sachen, welche den jeweiligen Gegenstand bilden, hinweg aneinander richten und sich gegenseitig ansprechen. Dieses zweite Zwischen, das sich im Zwischenraum der Welt bildet, ist ungreifbar, da es nicht aus Dinghaftem besteht und sich in keiner Weise verdinglichen oder objektivieren läßt; Handeln und Sprechen sind Vorgänge, die von sich aus keine greifbaren Resultate und Endprodukte hinterlassen. Aber dieses Zwischen ist in seiner Ungreifbarkeit nicht weniger wirklich als die Dingwelt unserer sichtbaren Umgebung. Wir nennen diese Wirklichkeit das Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten, wobei die Metapher des Gewebes versucht, der physischen Ungreifbarkeit des Phänomens gerecht zu werden. (172f.)

In der ihr eigenen Stilmischung aus Pathos und Nüchternheit, syntaktischem Überschwang und lexikalischer Griffigkeit unterscheidet Arendt zwei Zwischen-Räume des Handelns und Sprechens voneinander. Der »Zwischenraum der Welt«, den Vita activa zudem als das »Öffentliche« und »Gemeinsame« (52) bestimmt, umfasst die Gesamtheit der Belange und Interessen, die Menschen untereinander politisch verhandeln. Diese Sphäre stellt wiederum den »objektiven« Nährboden für die von Arendt beinahe parasitär gezeichnete Entstehung eines weiteren »Zwischens« im Handeln und Sprechen bereit. In seinen Grenzen lassen die Handelnden unwillkürlich füreinander den ungegenständlichen Überschuss dessen erscheinen, was aktuell als ›Identität‹ verschlagwortet wird und was Arendt selbst bündig als die »Antwort auf die […] Frage: Wer bist Du?« (167) fasst. Dabei gilt, dass Handeln und Sprechen notwendig ineinandergreifende Bestandteile derselben Aktivität sind: »Erst durch das gesprochene Wort fügt sich die Tat in einen Bedeutungszusammenhang, wobei aber die Funktion des Sprechens nicht etwa ist, zu erklären, was getan wurde, sondern das Wort vielmehr den Täter identifiziert und verkündet, daß er es ist, der handelt […]. Es gibt keine menschliche Verrichtung, welche des Wortes in dem gleichen Maße bedarf wie das Handeln.« (168) Obwohl Arendt in Vita activa zwischen dem »politischen« und »unpolitischen« (oder »praktisch[en]« [223]) Handeln (180) explizit unterscheidet, strahlen entscheidende Aspekte ihrer begrifflichen Konfiguration des politischen Handelns auch unmittelbar auf dessen nicht-politisches Gegenstück aus.

Dass Arendt dem politischen Handeln und Sprechen das Vermögen zuschreibt, für Menschen die gegenseitige »Enthüllung der […] personale[n] Einzigartigkeit ihres Wesens« (169) zu leisten, ergibt sich aus einer Reihe vorgelagerter philosophisch-theoretischer Setzungen. Zum einen ist für sie »[d]as Handeln […] die einzige Tätigkeit […], die sich ohne die Vermittlung von Materie, Material und Dingen direkt zwischen Menschen abspielt.« (14) Handeln stiftet in seinem Vollzug eine Unmittelbarkeit, welche die raumzeitliche und körperliche Kopräsenz der Handelnden, »die einmalige Gestalt ihres Körpers und de[n] nicht weniger einmaligen Klang ihrer Stimme« (169) miteinschließt. Zum anderen ist »Handeln […] in Isolierung niemals möglich; jede Isoliertheit, ob gewollt oder ungewollt, beraubt der Fähigkeit zu handeln. […] Handeln und Sprechen vollzieht sich in dem Bezugsgewebe zwischen den Menschen, das seinerseits aus Gehandeltem und Gesprochenen entstanden ist, und muß mit ihm im in ständigem Kontakt bleiben.« (180) Handeln ereignet sich nur im Zwischen der Gemeinsamkeit, im Zusammen-Handeln und Miteinander-Sprechen mit anderen Menschen, was Arendt in »The Human Condition« durch den häufigen Gebrauch eines bei Edmund Burke entliehenen Ausdrucks hervorhebt, »to act in concert« (179). Zuletzt sieht Arendt in der unmittelbaren Gemeinschaft des Handelns, die das »Wer-einer-ist« (171) intersubjektiv enthüllt, eine der drei ontologisch vorgängigen »Grundbedingungen« am Werk, »unter denen dem Geschlecht der Menschen das Leben auf der Erde gegeben ist« (14). Handeln und Sprechen mobilisieren in und für sich »das Faktum der Pluralität, […] die Tatsache, daß nicht ein Mensch, sondern viele Menschen […] die Welt bevölkern.« (ebd.) Arendt erläutert diese Grundtatsache folgendermaßen: »Im Menschen wird die Besonderheit, die er mit allem Seienden teilt, und die Verschiedenheit, die er mit allem Lebendigen teilt, zur Einzigartigkeit, und menschliche Pluralität ist eine Vielheit, die die paradoxe Eigenschaft hat, daß jedes ihrer Glieder in seiner Art einzigartig ist.« (165)

Seit dem Jahreswechsel 2019/2020 ist das Covid19-Virus weltweit immer tiefer in das von Arendt entworfene doppelte ›Zwischen‹ des Handelns und Sprechens eingedrungen und hat nicht weniger rasant das Arbeiten und Herstellen, die anderen beiden Sektoren des für Arendt ›tätigen Lebens‹, erfasst. Das unerbittliche Hineinwuchern des Virus in das ›Bezugsgewebe‹ handelnder und sprechender Menschen hat zwei wesentliche Reflexionsstränge von Vita activa phänomenal augenfällig gemacht: »Die Zerbrechlichkeit menschlicher Angelegenheiten« (180) und »Die Aporien des Handelns« (185). Die globale Wirklichkeit der Pandemie lässt auf zahllose Weisen die Grundspannung zur geteilten Erfahrung werden, in der Arendt das Wesen des Handelns erblickt. Handeln bestimmt sich für sie durch das aporetische Zugleich und Ineins gegenläufiger Bewegungen: Einerseits eignet ihm die unerhörte Kraft, immer wieder »etwas Neues an[zu]fangen« (166) im Sinne politischer Bewegungen und Gemeinschaften und so politische Macht zu erzeugen, die aus Arendts Sicht nur zwischen Handelnden entsteht und sich allein für die Dauer ihres gemeinsamen Handelns verwirklicht. Andererseits sind die Kraft und die Macht des Handelns nicht abzulösen von seiner »Schrankenlosigkeit« (183) und der »Unabsehbarkeit und Unwiderruflichkeit der von ihm begonnenen Prozesse« (231) und ihrer Folgen. Dazu führt Arendt aus: »Jedenfalls bleiben auch in den beschränktesten Umständen die Folgen einer jeden Handlung schon darum unabsehbar, weil das gerade noch Absehbare, nämlich das Bezugsgewebe mit den ihm eigenen Konstellationen, oft durch ein einziges Wort oder eine einzige Geste radikal geändert werden kann. | Schrankenlosigkeit erwächst aus der dem Handeln eigentümlichen Fähigkeit, Beziehungen zu stiften, und damit aus der ihm inhärenten Tendenz, vorgegebene Schranken zu sprengen und Grenzen zu überschreiten.« (183) Gerade in dieser Hinsicht hat die Covid19-Pandemie Arendts in Vita activa gestellte Frage akut werden lassen, inwiefern das Handeln durch staatliche Gesetze und ethische Gebote gesellschaftlich kontrollierbar ist und in welchem Maße es dies sein muss.

Gleichzeitig treten im kalten Licht der Corona-Wirklichkeit eine Reihe von Unschärfen und Leerstellen an Arendts Denken des Politischen hervor. Im genealogischen Ausgang von der griechisch-römischen Antike trennt sie das politische Handeln und Sprechen sowie den »öffentlichen Raum«, in dem beide sich ereignen, nachdrücklich von der »präpolitische[n]« (33) Sphäre des Haushalts und des Privaten ab. Der letzteren schlägt Vita activa mehr oder weniger vollständig das Dasein des Menschen als eines sterblichen Lebewesens zu, das den biologisch notwendigen Prozessen und Zyklen seines Körpers unterworfen ist. Am schärfsten zeigt sich dies, wenn Arendt ausführt, »daß die intensivste uns bekannte Empfindung, die Erfahrung starker körperlicher Schmerzen […], gleichzeitig die privateste aller Erfahrungen ist […], die überhaupt ungestaltbar ist und daher in der Öffentlichkeit nie in Erscheinung treten kann.« (50) Das Covid19-Virus hat diese begrifflichen Trennungen Arendts unterlaufen. Unterschiedslos ›durchwächst‹ und ›überwuchert‹ das Virus die Räume des Privaten und das öffentliche ›Zwischen‹ des Handelns und Sprechens. Es zwingt beiden die reduktive Verwandlung in eine virologische Gefahrenzone auf, die aus kontingenten Übertragungswegen zwischen menschlichen Organismen und der Möglichkeit ihrer Ansteckungen untereinander besteht. Dabei schließt dieser totale Ansteckungs-Raum latent auch die mentale Vorwegnahme all jener Schmerzen ein, welche die einmal erfolgte Infektion im individuellen Körper auslösen könnte.

Im Zuge des Hineinwucherns des Covid19-Virus in öffentliche und private Räume macht sich die Zerbrechlichkeit menschlicher Körper unabweislich gegen Arendts ›Zerbrechlichkeit menschlicher Angelegenheiten‹ geltend. Um sterbliche Körper vor dem Virus zu schützen, schränken zahlreiche Staaten das ›Zwischen‹ vor allem des nicht-politischen Handelns in wechselnden Szenarien und Intensitätsgraden ein. Ihr zeitlich wie örtlich gestaffelter Einschluss von Menschen in das Private reicht dabei vom ›Mindestabstand‹ (der jedoch auch bei politischen Demonstrationen einzuhalten ist) über Reisebeschränkungen bis hin zu Kontakteinschränkungen und Ausgangssperren. Freilich entgehen auch diese staatlichen Maßnahmen nicht den ›Aporien des Handelns‹. Tatsächlich hat die Pandemie ein Zwischen virologischer Zeit-Räume geschaffen, in dem Handeln fast ausschließlich in der nahezu theatral verdichteten Gestalt gegenwärtiger oder zukünftiger Risiken auf die politische, soziale und individuelle Sphäre durchschlägt. Die Pflicht, in Innen- und Außenräumen eine ›Mund-Nasen-Bedeckung‹ zu tragen und so das ›Wer-bist-Du?‹ teilweise zu verhüllen, antwortet auf das Faktum, dass der bloße Akt des Miteinander-Sprechens für die Sprechenden lebensbedrohlich sein könnte. Der physische ›Mindestabstand‹ wird als mentale wie gefühlsmäßige Distanz im Zusammensein mit anderen Menschen verinnerlicht. Das breite Spektrum gesellschaftlich ›unabsehbarer‹ Folgen, welche die politischen Strategien zur Pandemie-Eindämmung jetzt und künftig nach sich ziehen (etwa Armut, Erwerbslosigkeit, die Zunahme von häuslicher Gewalt und Missbrauch), kehrt im Brennspiegel einer möglichen Covid19-Infektion, ihres nicht sicher prognostizierbaren Verlaufs und ihrer ungewissen Spätfolgen als die ›Unabsehbarkeit‹ individueller Handlungen für sich und andere wieder: Soll ich mit diesem Bus fahren oder auf den nächsten warten? Wann und wo gehe ich einkaufen? In welchen zeitlich-räumlichen Settings kann ich noch Familienangehörigen und Freunden begegnen?  Wen begrüße ich mit einem Händedruck oder einer Umarmung? Darf ich die Körper begehrter und geliebter Menschen berühren? Wen küsse ich?

Auf handgreifliche Weise lenken diese Fragen den Blick auf die für Arendt »zweideutigste aller menschlichen Gaben, die Freiheit, […] die das menschliche Bezugsgewebe zwar schafft, aber so, daß jeder, der an ihm mitwebt, in einem solchen Ausmaße in es verstrickt wird, daß er weit eher das Opfer und der Erleider der eigenen Tat zu sein scheint als ihr Täter und Schöpfer.« (229) Noch kompakter definiert Arendt diese ›Zweideutigkeit‹ in einem Eintrag ihres »Denktagebuchs«: »Freiheit erkennt man an der Unwiderrufbarkeit einer ereigneten Entscheidung.« (Arendt, Denktagebuch, Heft IV, [18], Juni 1951, 94) Freiheit in Arendts philosophischem Verständnis, das diese streng von staatlicher Souveränität unterscheidet, scheint unter den biopolitischen Bedingungen der Covid19-Pandemie vornehmlich negativ erfahrbar, als die Einschränkung oder Unterlassung von Handeln und der besonderen ›Nähe‹, die es zwischen Menschen stiftet. Und dennoch hat eine solche Freiheit sich auch im Pandemie-Sommer 2020 ereignet. Das Zusammenspiel jener Begriffe, aus dem heraus Arendt in Vita activa die weltbildenden Kräfte des Handelns entwickelt, verwirklichte sich in der »Black Lives Matter«-Protestbewegung. Nach dem gewaltsamen Tod George Floyds im Mai 2020 demonstrierten ihre Angehörigen über Monate hinweg in den USA für einschneidende Veränderungen nicht nur im US-amerikanischen Polizei- und Justizsystem. Auf den Straßen und Plätzen zahlreicher US-Bundesstaaten behaupteten die »Black-Lives-Matter«-Demonstrierenden das öffentliche ›Zwischen‹ gegen sein Verschwinden in der Covid19-Infektionssphäre. Trotz gegenseitiger Ansteckungsgefahr ließen sie ihre je einzigartigen Identitäten in der Gemeinschaft des Handelns und Sprechens und als Plural ihrer Worte und Taten erscheinen. Die Proteste verbreiteten sich in kürzester Zeit über die USA und steigerten sich in ihrem Verlauf auch bis zur Intensität der Gewalt. (Ihr erheblich vergröbertes Nachbild stellt sich in den Demonstrationen deutscher »Querdenken«-Gruppierungen ein, denen in Arendts Entwurf des Handelns zumindest eine struktural isomorphe Beschreibung zukäme.) Oder, um dieses so sichtbare politische Geschehen auf den Konnex zu beziehen, den Arendt zwischen ›Handeln‹, ›Anfang‹, ›Ereignis‹, ›Unabsehbarkeit‹, ›Pluralität‹ und dem Begriff der »Natalität« oder »Gebürtlichkeit« (167) stiftet:

Es liegt in der Natur eines jeden Anfangs, daß er, von dem Gewesenen und Geschehenen her gesehen, schlechterdings unerwartet und unerrechenbar in die Welt bricht. Die Unvorhersehbarkeit des Ereignisses ist allen Anfängen und allen Ursprüngen inhärent. […] Die Tatsache, daß der Mensch zum Handeln im Sinne des Neuanfangens begabt ist, kann daher nur heißen, daß er sich aller Absehbarkeit und Berechenbarkeit entzieht, daß in diesem Fall das Unwahrscheinliche selbst noch eine gewisse Wahrscheinlichkeit hat, und daß das, was ›rational‹, d.h. im Sinne des Berechenbaren, schlechterdings nicht zu erwarten steht, doch erhofft werden darf. Und diese Begabung für das schlechthin Unvorhersehbare wiederum beruht ausschließlich auf der Einzigartigkeit […] [und] auf dem alles menschliche Zusammensein begründenden Faktum der Natalität […], der Gebürtlichkeit, kraft derer jeder Mensch einmal als einzigartiges Neues in der Welt erschienen ist. (166f.)

Vielleicht liegt die Aktualität von Arendts Vita activa für die Covid19-Gegenwart und über ihre Grenzen hinaus in der Geste eines Denkens, das unerschrocken das unvorhersehbar Ereignishafte des politisch wie unpolitisch handelnden Menschseins nicht allein gegen die Wirklichkeit biopolitischer Zwänge behauptet, sondern auch gegen die »hübsch symmetrisch[e] […] Welt« (Hölderlin) aus Algorithmen-Hand bejaht. Das appellative Pathos dieses Denkens speist sich aus dem, was Hannah Arendt in einem Brief an ihren philosophischen Lehrer und Freund Karl Jaspers am 6. August 1955 als Titel für ein work in progress nannte, das zuletzt The Human Condition/Vita activa wurde: »Ich habe so spät, eigentlich erst in den letzten Jahren, angefangen, die Welt wirklich zu lieben, daß ich es eigentlich können müßte. Aus Dankbarkeit will ich mein Buch über politische Theorien ›Amor Mundi‹ nennen.« (Briefwechsel Arendt/Jaspers, 301)

 

Literatur
– Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. Piper & Co. Verlag: München 1967.

– Hannah Arendt: The Human Condition. Chicago University Press: Chicago 1958.

– Hannah Arendt: Denktagebuch. 1950-1973. Zwei Bände. Piper Verlag: München 2002.

– Hannah Arendt/Karl Jaspers: Briefwechsel 1926-1969. Hrsg. von Lotte Köhler und Hans Saner. Piper Verlag: München, Zürich 1985.

– Hannah Arendt/Karl Jaspers: Correspondence 1926-1969. 2 Vols. Edited by Lotte Kohler (sic) and Hans Saner. Harcourt Brace Jovanovich, Publishers: New York, San Francisco, London 1992.

– Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. ›Frankfurter Ausgabe‹. Historisch-Kritische Ausgabe. Hrsg. v. Dietrich Eberhard Sattler u. a. 20 Bde. Frankfurt/M. 1975-2008

Anmerkung zum Hölderlin-Zitat:
Hölderlin schreibt vmtl. am 7. Januar 1799 an seinen Bruder Carl Gock wörtlich: »Aber die besten unter den Deutschen meinen meist noch immer, wenn nur erst die Welt hübsch symmetrisch wäre, so wäre alles geschehen.« (Friedrich Hölderlin Sämtliche Werke. ›Frankfurter Ausgabe‹. Historisch-Kritische Ausgabe. Hrsg. v. Dietrich Eberhard Sattler u. a. 20 Bde. Frankfurt/M. 1975-2008, Bd. 20, 348.)