Avital Ronells Das Telefonbuch: Technik, Schizophrenie, Elektrische Rede wiedergelesen

1989 – Gehorchende Technologie und Antinormative Methodik

Avital Ronells »Das Telefonbuch: Technik, Schizophrenie, Elektrische Rede« wiedergelesen

Von Lisa Stuckey


Avital Ronells »Das Telefonbuch: Technik, Schizophrenie, Elektrische Rede«

 

Avital Ronell, Philosophin der Dekonstruktion, publizierte Das Telefonbuch: Technik, Schizophrenie, Elektrische Rede im Jahr 1989 (engl. Original, dt. 2001). Der Mehrwert, den eine Re-Lektüre dieses Buchs für ein Denken in Zeiten der Pandemie besitzt, zeigt sich sowohl in ihrer Analyse des Telefons als Instrument und Dispositiv als auch in der von der Autorin untersuchten politischen Körpermetaphorik; außerdem in (verdrängten) Debatten um Staatsschulden und in der Adressierung von Tod und Sterblichkeit. Während Ronell noch danach fragt, ob das Telefon nicht fundamental mit dem Zustand des Nicht-zu-Hause-Seins verknüpft sei (Ronell 2001, 58f.), sind das (mobile) Telefon und andere Interfaces im Lockdown deckungsgleich geworden mit dem (stationären) home-sweet-home office.

Unkonventionell in Form und Inhalt, folgt das Buch selbst einer telefonischen Logik. Weil Technologie erst durch Interferenzen, Verzögerungen und Lücken ins Bewusstsein tritt, schlägt sich dies in der Textgestaltung nieder: Zwischen Sign und Design ziehen sich gestrichelte und gepunktete Linien, Symbole und Grafiken durch Ronells Werk. Sie erinnern an die Punkte und Striche des Morsecodes, der geschichtlich dem Telefon vorausging. Typografisch durchdringen vertikale oder horizontale Schallwellen den Text, zum Beispiel in den Kapiteln »Unterwegs zur Lainguage« und »Die Gabel stimmen«, in denen Wellen anstelle von Anführungszeichen zur Versinnbildlichung der Tonfrequenzen dienen. Inhaltlich geht es um eine autobiografische Erzählung von Thomas A. Watson, der als Mechaniker Alexander Graham Bell bei der Erfindung des Telefons unterstützte. Dazwischen finden sich geschwärzte und weiß gelassene Seiten, die – teils nicht paginiert – Phantomadressen gleichen. Sie symbolisieren Leere und Verlust und sind dabei buchstäblich als Symptom zu lesen: »[D]er Lapsus, als Ausrutscher oder Fall, wenn er seine unbewußte Richtung enthüllt und seine Wahrheit manifestiert, [wird] für die psychoanalytische Interpretation zu einem Symptom.« (ibid., 157, H.i.O.) Ronell leitet die »Geburt eines Telefons« dagegen aus einem Befehl ab: »In dem berühmten inauguralen Satz, der ersten voll intelligiblen Grammatik, die elektrisch übertragen worden ist, hat Bell Thomas A. Watson mit einer Befehlsäußerung herbeigerufen. […] ›Watson, komme her! Ich brauche Dich!‹« (ibid., 223) Ronell übersetzt dieses Kommando allerdings auch in ein Gefühl des Verlustes: »[D]u fehlst mir, ich vermisse dich« (ebd.). Die zu Beginn noch freundliche Durchsage der Wiener Linien per Lautsprecher: »Help to flatten the curve« ging in einen Befehl über: »Bedecken Sie Mund und Nase«. Aufrufe zur Solidarität und der Imperativ, sich hygienisch richtig zu verhalten, liegen in den Schallwellen der auditiven Medien augenscheinlich nah beieinander.

Dies lässt sich auch für die pendemische Info- und Notrufnummer feststellen: Symptomatisch läuft eine Kontextualisierung der in Österreich unter 1450 erreichbaren und seit der Pandemie als »Corona-Hotline« bekannt gewordenen telefonischen Gesundheitsberatung in Ronells Kapitel »Crisis Hotlines« (in der deutschen Übersetzung als »Notdienst« in den »Gelben Seiten« enthalten) ins Leere. Es gibt vorerst keine Erlösung vom Ausnahmezustand. Stattdessen handelt es sich bei diesem Buchabschnitt um ein Personen- und Sachregister, das keine der in der Überschrift versprochenen Notrufnummern preisgibt – womit ein Charakteristikum heutiger Krisenkommunikation angesprochen ist: Sie ist von unerwarteten Wendungen und widersprüchlichen Verordnungen geprägt. In der derzeitigen Krise der Versammlung – von Kontaktreduktionen, Einschränkungen des öffentlichen Lebens und der Versammlungsfreiheit über Geheimdienstler_innen, welche für unauffällige Beschattung Menschenmengen benötigen – kommt dem telefonischen Dispositiv eine zentrale Rolle zu. Es wird zur kritischen Infrastruktur par excellence und reicht von Aufruf, Befehl und Vorladung bis zum Nachruf.

So sind die Hauptakteure in Ronells »Drama der telefonischen Logik« (ibid., 88) die Toten Alexander Graham Bell, Jacques Derrida, Martin Heidegger, Sigmund Freud und Thomas A. Watson. Das Buch widmet sich dem Scheitern und Gelingen von »Beziehung[en, die] telefonisch strukturiert« (ibid., 86) sind: von Heidegger, der von der nationalsozialistischen Sturmabteilung angerufen wurde und abhob, zu Derrida, der von Heidegger angerufen wurde, jedoch nicht abhob. Ob es sich bei Letzterem um einen faktischen oder einen »geisterhaften Anruf« (ibid., 89) handelte, bleibt offen. Dieser (fiktive) Anruf war jedenfalls ein R-Gespräch, bei dem die Kosten auf den Empfänger übergingen. Sie regten Derrida und Ronell zu einem Nachdenken über die Ketten der Verschuldung an, die Ronell in dem Satz zusammenfasst: »Die Frage der Schuld ist überhaupt keine Frage, sondern eine Adresse.« (ibid., 47) Sie nimmt damit Bezug auf Derridas Kernfrage in Die Postkarte: »Kurz und gut, wer zahlt, der Destinatär oder der Destinateur?« (Derrida 1982, 29). Dies kann auf die aktuell nur im Ansatz geführte Debatte über den Generationenvertrag umgelegt werden: Wer zahlt die in der Krise aufgenommenen Schulden zurück? Wer wird mit dieser (ökonomischen) Schuld geboren, und ist sie überhaupt zurückzahlbar? Derrida, der Schuldenpolitik mit psychoanalytischer Theorie zur Übertragung und Verdrängung querliest, schreibt: »Die Anleihe ist das Gesetz. […] Alles beginnt mit dem Transfer von Fonds, und es ist von Interesse, zu leihen […]. Die Anleihe trägt zu, sie produziert den Mehrwert, sie ist der erste Beweger jeder Investition.« (Derrida 1987, 152f, H.i.O.)

Bezogen auf Heideggers »Technophobie« (Ronell 2001, 187) bringt Ronell ein wichtiges Argument vor: »Technik ist nicht einfach das Telefon (dessen Bestimmung als Werkzeug, Objekt, Einbau, Ausrüstung, Phantasie, Über-Ich-Maschine etc. unsicher bleibt). Vielmehr untersteht auch Technik dem Gesetz der Antwort, sie wartet darauf, einen Ruf zu beantworten […].« (ibid., 93) Somit setzt Ronell Heideggers Technikphobie eine medienästhetische Technikphilosophie und eine psychoanalytische Medienphilosophie entgegen und schreibt über »die unheimliche Erfahrung des Daseins seines geworfen Seins-zum-Tode – […] von wo der Ruf ergeht, durch den sich der Andere als anonymer Andere artikuliert« (ibid., 63). Das Gefühl des Verlustes hängt also gerade an dem Ruf der Anderen, die in COVID-19-Zeiten sogar zu wirklichen Todesüberbringenden werden können. Durch Übersterblichkeit verstärkt, bestätigt sich der potenzielle Verlust, den Ronell in einer »Genealogie des Telefons« (ibid., 101) zusammenfasst, die ihren »Ursprung hat im Verlust der Familie« (ebd.).

Schon Alexander Graham Bell ging an dieser Genealogie nicht spurlos vorbei. So materialisiert die biologisch-technische Beziehung im telefonischen Ohr auch seine potentielle Befehlsleitung: »Alexander Graham Bell hat […] ein totes Ohr zu dem Haus seiner Mutter getragen« (ibid., 193). Erziehung dient hier dem freiwilligen ›Gehörig-Sein‹ des Sohns: also der kindlichen Neugierde, hören zu wollen und bereit zu sein, in der Warteschleife zu hängen (ibid., 36f.). Dass mit dem Telefon stets familiale Linien nachvollzogen und weitergeführt werden, betont Ronell auch bezüglich Freud: »Wo er Ausschau hält nach einem Bild seines eigenen Penis, entdeckt er stattdessen einen anderen Mund bei der Mutter – das Mundstück und einen Hörer« (ibid., 107). Sie übersetzt Freuds Drei-Instanzen-Strukturmodell der Psyche aus Es, Ich und Über-Ich in dreieckige Diagramme, bestehend aus schwarzen Telefonsymbolen an den Ecken und Namen der oben genannten Akteure des Telefonbuchs entlang der Seitenlinien. Diese psychoanalytische Logik setzt sich in Körpermetaphoriken fort, etwa in einer Analogie zwischen Telefonkabel und Nabelschnur als Linie besonderer Art zwischen Sohn und Mutter – wie es bei Bell und Heidegger nachvollziehbar gemacht wird.

Ronells Unbehagen gegenüber dieser ödipalen Sohn-Mutter-Beziehung, findet seine Auflösung im Kapitel »Der Nervenzusammenbruch«. Darin vollzieht sie mit einem »Schnitt« (ibid., 114) eine Verbindungsunterbrechung und einen Registerwechsel: »[D]ie Technik [ist] in den Körper eingebrochen […] (in jeden Körper: das umfaßt gleichermaßen die Körperpolitik wie den politischen Körper und seine inneren Organe, d.h. die Sicherheitsorgane des Staates).« (ebd). In dieser Parallelisierung der inneren Körperorgane, des expressiven Stimmorgans sowie der offiziellen Staatsorgane erscheint Ronell die Figur der_des Schizophrenen zentral: »Immer verbunden mit etwa anderem und einem anderen Ruf, ist die Schizophrenie nie sie selbst, sondern wird unterschiedslos von einem operator durchgestellt. Das schizophrene Subjekt insistiert darauf, so wie der Philosoph, der sich an die problematische Einheit von klinischem und kritischem Diskurs heranwagt.« (ibid., 117, H.i.O.) Philosophisches Denken – als telefonischer Diskurs voller Interferenzen – sollte zur kritischen Infrastruktur zählen, konkret bezogen auf seine Rolle der Kritik an bestehenden Institutionen und als Ideengeber für die Entwicklung neuer Infrastrukturen für eine stärkere öffentliche Präsenz eines praxisorientierten und ethisch-ästhetischen Denkens sozioökonomischer wie ökologischer Relationen.

So prägt Ronell mit ihren »Telephonics« eine Denkfigur, die sich sowohl als Diagnose als auch Methode eines antinormativen Philosophierens begreifen lässt. Diese ist für pandemische Zeiten wichtig, weil sie dazu beitragen könnte, dass die Hegemonie evidenzbasierter Wissenschaften kritisch hinterfragt wird. Zugleich jedoch gibt es derzeit einen äußerst problematischen Angriff auf die Hegemonie dieser Wissenschaften und ihre biopolitische Dimension zu verzeichnen, beispielsweise von sogenannten Querdenker_innen und Impfgegner_innen.

In welchem Verhältnis auditive Zeug_innenschaft, die heilsame psychoanalytische Rede, Tratsch und ein Kennen von Hörensagen zueinanderstehen, lässt sich vom Telefonbuch ausgehend reflektieren. So schreibt Ronell: »Hat das Über-Ich einmal seine Ansprüche geltend gemacht, sind wir auf legalem Territorium. Zeugen sprechen, Urteile werden ausgetauscht, Verurteilungen angekündigt.« (ibid., 113) Wo jedoch gehen Psychoanalyse und Recht auseinander? In den »verletzlichsten Zugänge[n] zur Psychoanalyse, ihre[r] Abhängigkeit von einer fundamentalen Struktur des Geredes oder in Freuds Worten, des Hörensagens« (ibid., 120, H.i.O.). Während sich informelle Rede im Privaten auf das Telefon verlagert, wird sie im professionellen Bereich zurückgedrängt. Heutige Telefonkonferenzen (so auch der Titel eines der Kapitel) beginnen pünktlich ohne sogenannte »akademische zehn Minuten«. In Abwesenheit des Schutzwalls eines anekdotenhaften Tratsch-Austauschs als Para-Begegnung oder Para-Text folgen sie der Logik einer Anhörung, sofern Verbindungsprobleme small talk nicht wieder über Umwege zustande bringen, um die Wartezeit zu überbrücken. Die talking cure der Psychoanalyse, basierend auf Hörensagen und Gerede, steht dem Recht gegenüber, das nur Zeug_innenschaft ersten Grades akzeptiert, um sich von Gerücht und oral history abzugrenzen. Etwa 100 Jahre nach Erfindung der Psychoanalyse und 150 Jahre nach Erfindung des Telefons »bleibt [es] rechtlich, epistemologisch und technisch unklar, ob […] Ohrenzeugenschaft zum Wissen wird« (ibid., 288).

Es ist aber vor allem die Methodik, die dem Telefonbuch Jahrzehnte nach Publikation weiterhin als medienphilosophischem Text Bedeutung verleiht. Womöglich löst das Buch die Angst aus, es nicht vollständig gelesen oder verstanden zu haben, und damit verbunden auch das Gefühl des Versagens oder der Schuld. Dabei ist es gerade die Unverständlichkeit oder eher der Entzug der Verständlichkeit, den das Werk in thematischer wie formaler Hinsicht bearbeitet: Durch den mehrfach von Zeichen, Linien und Diagrammen durchbrochenen Fließtext ohne Absätze oder durch überdruckte und verschobene Buchstaben, von denen nur Fragmente übrig sind. Seinem Ideal entsprechend, wäre es bei jedem Zugriff, d. h. Anruf und Aufruf, anders zu dekodieren. Darin begründet sich die Empfehlung einer Relektüre dieses quasi-juristisch performativen Telefonbuchs. Denn wir befinden uns an einem Schaltbrett, an dem neu gewählt wird. Insofern möchte Ronell auf andere als technische (Wissens-)Systeme, Protokolle und Dynamiken der Wechselrede hinweisen. Zudem legt sie eine Herleitung des Telefons aus der Magie nahe:

»Keinesfalls hat Alexander Graham Bell das Telefon so verstanden, als sei es bloß ein wissenschaftliches Ding, ein Objekt oder sogar eine Maschine, die eines Tages unter einen Begriff der Herrschaft der Technik subsumiert werden könnte. Sein Partner, Thomas Watson, schrieb über die Kunst der Telefonie, und er war ein Spiritist, der in nächtlichen Séancen in Salem Geister beschwor. Für eine bestimmte Zeit war er ein starkes Medium.« (ibid., 191, H.i.O.)

Das Telefon bildet also den Link zwischen »Kanäle[n]« (ibid., 192) und »Wellen« (ebd.), zwischen Spiritualität und Technik. In der »Wahl des Daseins (Wahl, die […] frei übersetzt wird mit ›eine Nummer wählen‹)« (ibid., 62, H.i.O.) ist Das Telefonbuch ein Plädoyer, zwischen den Zeilen zu hören. Klick.

 

Literatur:

Jacques Derrida (1982): Die Postkarte. Von Sokrates bis an Freud und jenseits, 1. Lieferung (aus dem Französischen übersetzt von Hans-Joachim Metzger, Original: 1980). Berlin: Brinkmann & Bose

Jacques Derrida (1987): Die Postkarte. Von Sokrates bis an Freud und jenseits, 2. Lieferung (aus dem Französischen übersetzt von Hans-Joachim Metzger, Original: 1980). Berlin: Brinkmann & Bose

Avital Ronell (2001): Das Telefonbuch. Technik, Schizophrenie, Elektrische Rede (aus dem Amerikanischen von Rike Felka, Original: 1989). Berlin: Brinkmann & Bose

 


Avital Ronells »Das Telefonbuch: Technik, Schizophrenie, Elektrische Rede«