Alfred W. Crosby »Die Früchte des weißen Mannes« wiedergelesen

1986 – Virgin soil-Epidemien als Teil der biologischen Expansion Europas (Kolonialismus und Epidemien II)

Alfred W. Crosby »Die Früchte des weißen Mannes« wiedergelesen

Von Markus Arnold


Alfred W. Crosby »Ecological Imperialism: The Biological Expansion of Europe, 900-1900«

 

Epidemien waren nie die großen Gleichmacher: Krankheiten verbreiteten sich meist unvorhersehbar, sie verschonten einige Menschen und töteten gleich daneben ihre Nachbarn und nächsten Angehörigen. Epidemien boten daher auch immer einen fruchtbaren Boden für Verschwörungstheorien: Theorien über Menschen, die diese Seuchen absichtlich verbreitet hätten, um bestimmten Menschen zu schaden oder um dann – als Retter in der Not – von der Bekämpfung der Epidemie finanziell und politisch zu profitieren. Dieses Klima des Verdachts war in der Vergangenheit nicht anders als heute. Und war es nicht das, was einen auch die Historiker und Historikerinnen lehrten: dass man in einer Epidemie nicht nur auf die zahlreichen Opfer, sondern immer auch auf ihre Profiteure schauen sollte?

Der Historiker Alfred W. Crosby hat sich 1986 in seiner für die Umweltgeschichte bahnbrechenden Arbeit über den europäischen Kolonialismus an diese Maxime gehalten. Seine provokante These war: Nicht die überragende europäische Technologie oder die überlegene Waffentechnik gab den europäischen Neuankömmlingen die Überlegenheit über die indigenen Völker. Europa konnte die Welt nur deshalb so rasch kolonisieren, weil die mit der europäischen Lebensweise ins Land gebrachten Pflanzen und Tiere die Ökologie der kolonisierten Länder veränderten und diese veränderte Umwelt zusammen mit den aus Europa eingeschleppten Krankheitserregern die einheimische Bevölkerung in die Knie zwang. Laut Crosby waren die europäischen Invasoren die glücklichen Profiteure von zahlreichen Epidemien, die die Indigenen zu hunderttausenden hinwegrafften.

Diese »biologische Expansion Europas« auf andere Kontinente beschrieb er, hier in der deutschen Übersetzung seines Buches Ecological Imperialism. The biological Expansion of Europe, 900–1900, wie folgt:

»Die europäischen Auswanderer waren in der Lage, fremdes Land zu erreichen und sogar zu erobern. Aber zur Siedlungskolonie wurde es erst, wenn es Europa ähnlicher geworden war als im Urzustand. Zum Glück für die Europäer waren ihre domestizierten und optimal anpassungsfähigen Tiere trefflich geeignet, diesen Umwandlungsprozeß in Gang zu bringen. […] Selbst mit den technologischen Hilfsmitteln des 20. Jahrhunderts wären die Europäer in der Neuen Welt, in Australien und Neuseeland nicht im Stande gewesen, ihre Umwelt so erfolgreich zu verändern, wie sie es mit Hilfe ihrer Pferde, Rinder, Schweine, Ziegen, Schafe, Esel, Hühner, Katzen usw. erreichten. Insofern sich diese Tiere selbst reproduzieren, sind sie hinsichtlich Tempo und Wirkungsgrad der Umgestaltung ihrer Umwelt – selbst eines ganzen Kontinents – jeder bislang erfundenen Maschine überlegen.« (ibid., 287–289)

Mit der europäischen Einwanderung kamen jedoch nicht nur Nutztiere in die »Neue Welt«. Crosby widmet sich in seiner Studie speziell auch der Rolle von Epidemien bei der europäischen Kolonialisierung fremder Kontinente: Denn »die Macht der biogeographischen Realitäten, die den Erfolgen der europäischen Imperialisten zugrundeliegen« wird – so eine seiner zentralen Thesen – am spektakulärsten an den »kolonialen Karrieren der Krankheitserreger der Alten Welt« sichtbar (ibid., 326).

Crosby griff dabei auf seine bereits 1972 vorgestellte Untersuchung über den »Columbian Exchange« zurück, d.h. die weltverändernde Wirkung des biologischen Transfers von Tieren und Pflanzen im Anschluss an die »Entdeckung« Amerikas durch Columbus (Crosby 1972). Sein Ausgangspunkt war dabei die Beobachtung, dass die Europäer vor allem jene Gebiete okkupieren konnten, die klimatisch Europa sehr ähnlich waren, d.h. die kolonisierten Gebiete lagen vorwiegend in den

»gemäßigten Zonen der nördlichen und südlichen Erdhalbkugel. Das bedeutet, daß sie sich in den klimatischen Bedingungen weitgehend ähneln. Die Pflanzen, die den Europäern schon immer Nahrungsmittel und Fasern zur Fertigung ihrer Kleidung geliefert, und die Tiere, die sie ebenfalls mit Nahrungsmitteln und Fasern sowie mit Arbeitskraft, Leder, Knochen und Düngemitteln versorgt haben, gedeihen vor allem in einem warmen bis kühlen Klima mit einer Jahresniederschlagsmenge von 50 bis 150 Zentimetern. Solche klimatischen Verhältnisse sind charakteristisch für alle neo-europäischen Gebiete (oder wenigstens für deren fruchtbare Zonen), in denen sich die Europäer kompakt angesiedelt haben. Sie wurden offenbar vorwiegend von Gegenden angezogen, wo Weizen und Rinder gedeihen« (ibid., 16).

Doch obwohl diese geografischen Regionen Europa klimatisch ähnlich waren, versetzte die ursprüngliche Tier- und Pflanzenwelt aufgrund ihrer Fremdheit die ersten Europäer in Erstaunen. Der Wandel setzte aber sehr rasch ein: Während die von Europa kolonisierten Gebiete in Nord- und Südamerika, in Australien und Neuseeland »vor 500 Jahren weder Weizen noch Gerste, noch Reis, noch Rinder, Schweine, Schafe oder Ziegen« kannten, sind sie sehr bald zu jenen Regionen geworden, die heute in der globalisierten Wirtschaft »von allen Ländern der Erde am meisten Nahrungsmittel europäischer Provenienz exportieren« (ibid., 17f.).

Die klimatischen Bedingungen erlaubten aber nicht nur mit der europäischen Pflanzen- und Tierwelt die europäische Lebensweise auf andere Kontinente zu transferieren, sie waren auch einer der Gründe, warum europäische Krankheitserreger in den neuen Ländern eine ihnen vertraute Umgebung vorfanden. Vor allem da die in Europa entstandene Lebensweise im Vergleich zu der Lebensweise der Indigenen in den Amerikas, Australien und Neuseeland eine besonders fruchtbare Brutstätte für Viren, Parasiten und andere Krankheitserreger bildete:

»Die Jäger und Sammler hatten bestenfalls eine einzige Tierart domestiziert – den Hund. Die Bauern- und Hirtenvölker der Neuen Welt domestizierten höchstens drei oder vier Arten. Die Kulturvölker der Alten Welt hingegen besaßen [seit der Neolithischen Revolution, M.A.] Herden von Rindern, Schafen, Ziegen, Schweinen, Pferden usw. Sie lebten mit ihren Tieren zusammen, teilten mit ihnen Wasser, Luft und allgemeine Umwelt, damit aber auch viele Krankheiten. Die Wirkung dieses trauten Zusammenlebens der verschiedenen Arten – also von Menschen, Vierbeinern und Federvieh samt den jeweils dazugehörigen Parasiten – mußte sowohl neue als auch neue Varianten alter Krankheiten hervorbringen. So wanderten beispielsweise Pockenviren ständig zwischen Menschen und Rindern hin und her, bis sich irgendwann Pocken und Kuhpocken ausgebildet hatten. Oder Hunde, Rinder und Menschen tauschten ihre Viren aus bzw. kombinierten ihre verschiedenen Virustypen, wodurch sie sich drei neue Krankheiten heranzüchteten: die Staupe, die Rinderpest und die Masern (auch Hundepest genannt). Menschen, Schweine, Pferde und domestiziertes Geflügel mit Kontakt zu wildlebenden Vögeln waren und sind bis heute Träger von Grippeviren; und so produzieren sie unter- und füreinander, immer wieder und auf Dauer, neue virulente Virustypen.« (ibid., 53)

Die Menschen in Europa hatten in ihren Heimatländern selbst an diesen Krankheiten jahrhundertelang gelitten. Als sie begannen die Welt zu kolonisieren, waren sie aber gegen die meisten dieser Krankheiten bereits immun oder soweit resistent geworden, dass diese für sie nur in Ausnahmenfällen tödlich endeten. Die Krankheitserreger waren längst ein Teil ihres Lebens.

 

Die Epidemien der »Neolithische Revolution«

Crosby führt die vielen Krankheitserreger auf die sog. »Neolithische Revolution« zurück, in der die Menschen nicht nur lernten Metall zu bearbeiten, sondern auch Pflanzen anzubauen (in Europa und dem Nahen Osten Weizen, in Amerika Mais) und verschiedene bis dahin wildlebende Tierarten als Nutztiere zu domestizieren (z.B. Schweine, Schafe, Ziegen, Hühner, später auch Rinder, Kamele und Pferde). Diese neue Wirtschaftsweise zwang die Menschen einerseits sesshaft zu werden, um ihre Felder zu bewirtschaften, ermöglichte ihnen aber andererseits auch erstmals in Städten und großen Siedlungen zusammenzuziehen, diese militärisch zu befestigen und das umliegende Land politisch zu beherrschen.

Es war aber gerade diese Sesshaftigkeit – in körperlich engem Kontakt mit den Nutztieren und anderen Menschen an einem Ort – die die ideale Grundlage für die Entstehung von Epidemien schuf. Denn zwar hatten schon die

»Jäger und Sammler […] ihre eigene Ungeziefersammlung mit sich herumgeschleppt, dazu gehörten etwa Läuse, Flöhe und innere Parasiten. Aber nur wenige Nomaden hielten sich so lange und in so großer Zahl am selben Ort auf, daß jene Mengen von Müll und Schmutz anfielen, die es Mäusen, Ratten, Schaben, Stubenfliegen und Würmern erlaubt hätten, sich in Scharen zu vermehren.« (ibid., 50f.)

Doch es waren nicht nur Ratten, von denen u.a. »die Pest, der Typhus, das Rückfallfieber und andere Infektionskrankheiten übertragen« wurden (ibid., 51). Mit der sesshaften Lebensweise der Ackerbauern und Viehhirten fanden auch »Mikroparasiten, wie Pilze, Bakterien und Viren« beste Lebensbedingungen vor: »Die Ackerbauern und Hirten waren […] nahezu hilflos, wenn es darum ging, Infektionskrankheiten zu stoppen, die unter den dichten Beständen ihrer Felder, Herden und Städte wüteten« (ibid., 52).

 

Eine Diagnose, die vor kurzem auch von dem Anthropologen James C. Scott bestätigt wurde. In seinem Buch Against the Grain. A Deep History of the Earliest States (einer Analyse der Entstehung der ersten Agrargesellschaften in Mesopotamien) zieht er eine kritische Bilanz der oft ignorierten negativen Folgen der »Neolithischen Revolution«. Epidemische Krankheiten stehen auch bei ihm ganz oben auf der Liste:

»In an outdated list, now surely even longer, we humans share twenty-six diseases with poultry, thirty-two with rats and mice, thirty-five with horses, forty-two with pigs, forty-six with sheep and goats, fifty with cattle, and sixty-five with our much-studied and oldest domesticate, the dog. Measles is suspected to have arisen from a rinderpest virus among sheep and goats, smallpox from camel domestication and a cowpox-bearing rodent ancestor, and influenza from the domestication of waterfowl some forty-five hundred years ago. The generation of new species-jumping zoonoses grew as populations of man and beasts swelled and contact over longer distances became more frequent. It continues today. Little wonder, then, that southeast China, specifically Guangdong, probably the largest, most crowded, and historically deepest concentration of Homo sapiens, pigs, chickens, geese, ducks, and wild animalmarkets in the world, has been a major world petri dish for the incubation of new strains of bird and swine flu.« (ibid., 104f.; zu den Epidemien: Kapitel 3: »Zoonoses: A Perfect Epidemiological Storm«, ibid., 93–115)

Laut Scott erlitten schon die ersten Menschen, die diese neue sesshafte Lebensweise mit einer Vielzahl an Nutztieren gewählt hatten, wiederkehrende Wellen an tödlichen Epidemien, die die Existenz der ersten Staaten und frühen Zivilisationen im Nahen Osten regelmäßig bedrohten und manchmal auch deren Zusammenbruch herbeiführten. Denn die in größeren Siedlungen zusammenlebenden Menschen hatten – so wie Jahrhunderte später die indigene Bevölkerung in Nord- und Südamerika, in Australien und Neuseeland – zu Anfang noch keine Abwehrkräfte gegen die den Menschen in den Städten nun regelmäßig heimsuchenden Epidemien entwickelt.

 

Die »Demographische Katastrophe« der indigenen Bevölkerung

Als die indigene Bevölkerung mit den europäischen Invasoren und der Ansiedlung europäischer Nutzpflanzen und Nutztierarten konfrontiert war, wurde sie daher auch von mehreren Wellen epidemischer Krankheiten heimgesucht. Das Immunsystem der Indigenen hatte gegen diese eingeschleppten Krankheitserreger noch keinerlei Abwehrkräfte entwickelt. Die Pocken waren sicher die schlimmsten, aber neben den Pocken grassierten aus Europa eingeschleppte Atemwegsinfekte, Geschlechts- und Durchfallkrankheiten, die viele Millionen Menschen schwächten, körperlich schädigten und töteten. Diese Epidemien breiteten sich im Landesinneren so schnell aus, dass ihnen viele Menschen zum Opfer fielen, lange bevor die ersten europäischen Siedler selbst in diese Gebiete vordrangen. Die genaue Zahl der Toten ist schwer zu bestimmen, aber in der Literatur hat sich zu Recht die Rede von einer »Demographischen Katastrophe« eingebürgert.

Crosby bezeichnete diese spezielle Art der Epidemien als »Virgin soil-Epidemien«, die – wenn es keine Impfungen oder andere Schutzmaßnahmen gibt – wegen der hohen Sterberaten einem für die betroffene Bevölkerung beinahe apokalyptischen Muster folgen:

»Virgin soil-Epidemien (Epidemien auf ‚jungfräulichem Boden‘, wie man ansteckende Krankheiten unter zuvor noch nie von ihnen betroffenen Bevölkerungsmassen nennt) pflegen folgende Wirkungen zu haben: Erstens sind sie für den einzelnen extrem gefährlich und enden oft tödlich; zweitens erkrankt fast jede Person, die mit dem Erreger in Kontakt kommt, daher entspricht die Sterberate der Gesamtbevölkerung der unter den Erkrankten; drittens bleiben nur wenige Menschen so gesund, daß sie die Kranken versorgen können, so daß viele Menschen sterben, die bei minimaler Pflege die Krankheit durchaus überstehen könnten; und viertens kann niemand mehr die Felder bestellen oder abernten und das Vieh betreuen: Die profane Alltagsaufgabe, für die künftigen Nahrungs- und Heizmittel zu sorgen, bleibt unerledigt.« (160f.)

So kannten zwar die

»Indianer Amerikas […] die Hautkrankheiten Pinta und Yaws (Himbeerpocken), Syphilis, Hepatitis, Enzephalitis (Gehirngrippe), spinale Kinderlähmung, einige Varianten der Tuberkulose (aber keine Lungentuberkulose) und Eingeweideparasiten. Dafür hatten sie keinerlei Erfahrungen mit Krankheiten der Alten Welt wie Pocken, Masern, Diphterie, Trachom (oder Ägyptische Augenkrankheit), Keuchhusten, Windpocken, Beulenpest, Malaria, Typhus, Cholera, Gelbfieber, Denguefieber, Scharlach, Amöbenruhr, Grippe und diversen Wurmkrankheiten.« (ibid., 329)

Die Pocken waren auch in Europa eine gefürchtete Krankheit, dort aber vor allem für Kinder gefährlich. Die meisten Erwachsenen in Europa waren immun, da sie diese Krankheit schon in der Kindheit überstanden hatten. »In den Kolonien jedoch schlugen die Pocken Junge und Alte und wurden so zur schrecklichsten aller Krankheiten.« (ibid., 333) Daher spielten gerade die Pocken nachdem sie ca. 1519 nach Amerika eingeschleppt worden waren, für die nächsten 400 Jahre

»für den Vormarsch des Imperialismus in den Überseegebieten eine ebenso entscheidende Rolle wie das Schießpulver – wenn nicht sogar eine ausschlaggebendere, denn die Ureinwohner konnten sehr wohl die Muskete und später das Gewehr gegen die Eindringlinge kehren, die Pocken hingegen ergriffen nur in Ausnahmefällen zugunsten der Einheimischen Partei […] Nachdem die Pockenepidemie binnen kurzem ein Drittel oder die Hälfte aller Arawak-Indianer auf Española hinweggerafft hatte, sprang sie nach Puerto Rico und auf die anderen Inseln der Großen Antillen über, um dort ihr Zerstörungswerk fortzusetzen. Dann wanderte sie weiter nach Kuba und Mexiko […]. Die Krankheit raffte einen großen Teil der Azteken dahin und räumte damit eines der Hindernisse auf dem Weg zur Gründung des Neuspanischen Reiches aus dem Wege. Bald darauf tauchten die Pocken als Vorhut der conquistadores in Peru auf und töteten einen beträchtlichen Prozentsatz der Untertanen des Inkareiches, den Inka selbst und den von ihm erwählten Nachfolger.« (ibid., 334)

Crosbys These, dass der Siegeszug des Konquistador Pizarro in Peru »weitgehend ein Siegeszug des Pockenvirus« gewesen sei (ibid., 335), muss man aber wohl etwas relativieren, da Pizarro die Eroberung des Inkareichs ohne die Unterstützung von indigenen Verbündeten, die gegen das Inkareich aufbegehrten, sicher nicht gelungen wäre (für eine gute und knappe Übersicht über den Forschungsstand siehe Huber 2019: 58–81). Doch ist unbestreitbar, dass die bis dahin den Indigenen völlig unbekannte Krankheit, die den spanischen Invasoren offenbar nichts anhaben konnte, den raschen Sieg der Spanier über die Inkas entscheidend befördert hat. Denn die Todesbilanz unter den Indigenen nahm innerhalb kürzester Zeit dramatische Ausmaße an, sodass ihre politische Handlungsfähigkeit oftmals gefährdet und ihre Gemeinschaften von Auflösungsprozessen bedroht waren. Die in Nord- und in Südamerika lebenden Indigenen hatten zur Zeit ihres ersten Kontakts mit den europäischen Invasoren

»eine Bevölkerungsdichte, die sie auf Jahrhunderte hinaus nicht mehr erreichen sollten, und waren für die Pocken überaus anfällig. […] Die Pocken schritten mit Siebenmeilenstiefeln voran. Zwischen 1520 und 1540 waren sie wahrscheinlich von den nordamerikanischen Großen Seen bis zur süd-amerikanischen Pampa verbreitet. […] Die Wirkungen der Pocken waren schrecklich: Es begann mit Fieber und Schmerzen, dann traten rasch die typischen Pusteln auf, die manchmal die Haut zerstören und das Pockenopfer wie ein blutiges Monster aussehen lassen, und am Ende stand eine ungeheure Sterberate, die auf 25 oder 50 Prozent und bei den schlimmsten Virusstämmen noch höher steigen konnte. Wenn die Gesunden der Epidemie entfliehen wollten, ließen sie die Kranken im Angesicht des sicheren Todes zurück, schleppten die Viren aber häufig selbst mit sich weiter.« (ibid., 335f.)

Die Todesraten unter den Einheimischen waren in Nordamerika über mehrere Jahrzehnte so groß, dass sich in Berichten europäischer Siedler – die laut Crosby »mit teils melancholischem, teils triumphierendem Unterton« geschrieben sind – viele Hinweise auf die zahlreichen Toten finden lassen. Um nur einen Überblick über die in den zeitgenössischen europäischen Berichten genannten Zahlen zu geben:

»In den 20er und 30er Jahren des 17. Jahrhunderts rasten die Pocken mehrfach über den heutigen Staat New York und seine Umgebung hinweg und wieder zurück, wobei sie die Bevölkerung der Huron- und der Irokesen-Föderation um schätzungsweise 50 Prozent dezimierten. […] 1738 wurde das halbe Cherokee-Volk vernichtet, 1759 das der Catawba fast zur Hälfte; in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts fielen den Pocken zwei Drittel des Omaha-Stammes und vielleicht die Hälfte der Gesamtbevölkerung zwischen Missouri und New Mexico zum Opfer und 1837/38 fast der gesamte Sioux-Stamm der Mandan und vielleicht die halbe Bevölkerung der Hochebenen.« (ibid., 338)

Und diese Aufzählung ist nur eine kleine Auswahl der von Crosby zusammengetragenen Daten über die Wirkungen der Pocken-Epidemien auf die indigene Bevölkerung, die in regelmäßig wiederkehrenden Wellen zwischen dem späten 17. Jahrhundert und der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts über Nord- und Südamerika hinwegrollten.

Aber auch in Australien unter den Aborigines wüteten die Pocken, nachdem sie im April 1789 in der Umgebung von Sydney ausgebrochen waren und sich von dort über den ganzen Kontinent ausbreiteten. Diese

»allererste Pandemie war mit Sicherheit die gewaltigste demographische Erschütterung, die den australischen Ureinwohnern je widerfahren ist. Sie dürfte – nach Edward M. Curr, dem bedeutendsten Aborigines-Forscher des 19. Jahrhunderts – ein Drittel der Gesamtbevölkerung vernichtet haben.« (ibid., 345).

Doch es war nicht die letzte: Im Laufe des 19. Jahrhunderts suchten die Pocken Australien noch drei Mal heim.

 

Die Spekulationen über eine biologische Kriegsführung

Wo die Grenze zwischen naturgegebener Katastrophe und von Menschen bewusst anderen zugefügtem Leid liegt, war immer schon umstritten. Gerade auch wenn es um die Erklärung von Seuchen und deren Verlauf ging. Immer wieder gab es Verschwörungstheorien über Menschen, die absichtlich Seuchen verbreitet hätten, um bestimmten Menschen zu schaden. Seien es Hexen, die angeblich mit ihren magischen Künsten Gesunde krank machten, seien es Juden, die man der Brunnenvergiftung beschuldigte, oder grausame Feinde, wie die Tataren, von denen der Italiener Gabriele de’ Mussi berichtete, sie hätten bei der Belagerung der genuesischen Handelsstadt Kaffa (heute: Feodossija) auf der Krim im Jahre 1346 die Leichen von Pesterkrankten mit Katapulten in die Stadt geschleudert. Denn nachdem die Pest unter den Tataren gewütet hatte und sie dazu zwang, die Belagerung abzubrechen, sollten zumindest die Bewohner der Stadt auch infiziert werden (s. Wheelis 2002).

Solche Fälle, wie sie sich in Kaffa ereignet haben sollen, wo Erkrankte angeblich den verzweifelten Versuch machten, mit Kadavern der eigenen Toten die Krankheit in die Reihen ihrer Feinde zu tragen, sind jedoch vermutlich die Ausnahme. Voraussetzung für einen strategisch gezielten Einsatz von Krankheitserregern in kriegerischen Konflikten ist in der Regel die Immunität der eigenen Soldaten und der eigenen Zivilbevölkerung. Daher forscht in vielen Ländern das Militär seit 1945 in seinen Labors nicht nur nach tödlichen Erregern, sondern auch nach wirksamen Impfstoffen, welche im Falle eines Einsatzes dieser biologischen Waffen die eigene Bevölkerung gegen die jeweilige Krankheit immun machen sollen. Denn nur wenn man sich selbst erfolgreich schützen kann, ist der Einsatz einer solchen biologischen Waffe überhaupt strategisch sinnvoll (vgl. zur wechselvollen Geschichte der Entwicklung biologischer Waffen: Guillemin 2005).

Da die Menschen, die aus Europa eingewandert waren, im Gegensatz zu den Indigenen weitgehend immun gegenüber den europäischen Krankheiten waren, verwundert es daher nicht, dass auch bald Gerüchte und Spekulationen aufkamen, die Europäer hätten absichtlich versucht, die indigene Bevölkerung anzustecken (z.B. mithilfe kontaminierter Decken, die an die Indigenen verkauft wurden), um so ohne kriegerische Auseinandersetzungen deren Land übernehmen zu können. Bestärkt wurden solche Spekulationen auch durch die sichtliche Genugtuung einiger gläubiger Siedler über das Massensterben der Indigenen: John Winthrop etwa, erster Gouverneur der Massachusetts Bay Colony, notierte am 22. Mai 1634: »Was die Eingeborenen anlangt, so sind sie nunmehr sämtlich den Pocken erlegen, sodaß der HERR unsere Ansprüche klargestellt hat auf das, was wir besitzen.« (Winthrop Papers, III: 167; zitiert ibid., 348)

Crosby weist jedoch solche Spekulationen über einen bewusst von den europäischen Siedlerkolonien geführten »bakteriologischen Krieg« mit zwei Plausibilitätsargumenten ins Reich der Legenden: Erstens – auch wenn man in Einzelfällen durch Kranke infizierte Decken an Einheimische verkauft haben sollte (und wenn durch diese Decken der Erreger überhaupt weitergegeben werden könnte) – war eine bewusste Verbreitung der Pocken und anderer Krankheiten nicht im Interesse der Siedlerfamilien. Zumindest solange es keine Impfungen gab, konnten diese Krankheiten immer auch auf diese übergreifen, insbesondere auf jene Familienmitglieder, die in der Kolonie geboren worden waren:

»Da die Weißen mit der Zeit immer länger in den Kolonien heimisch waren, gab es immer mehr, die dort auch geboren waren und deshalb den ganzen Parcours der Kinderkrankheiten der Alten Welt nicht hinter sich gebracht hatten. Für diese Menschen ging es darum, sich die Pocken vom Leibe zu halten, und nicht etwa, sie noch weiter zu verbreiten.« (ibid., 350)

Doch da Crosby selbst wenige Seiten zuvor festgehalten hat, dass die Pocken den Kolonisatoren bei der Vertreibung und Vernichtung der Einheimischen immer wieder halfen, »die Pocken hingegen […] nur in Ausnahmefällen zugunsten der Einheimischen Partei« ergriffen (ibid., 334), scheint dieses Argument nur bedingt überzeugend. Insbesondere da nicht klar ist, ob einzelne Siedler angesichts der deutlich unterschiedlichen Todesraten unter der europäisch-stämmigen Bevölkerung und den indigenen Völkern das (persönliche) Risiko einer solchen bakteriologischen Kriegsführung nicht doch ganz anders als Crosby eingeschätzt haben.

Crosbys zweites Argument scheint zumindest auf den ersten Blick weit überzeugender: Den europäischen Siedlern und Siedlerinnen fehlte zur damaligen Zeit das für eine systematische biologische Kriegsführung notwendige epidemiologische Wissen über die Krankheitserreger. Sie hatten auch nicht die Technologie, Krankheitserreger zu isolieren und zu lagern.

Aber auch dieses Argument hat aufgrund neuerer Forschungen der Historikerin Elizabeth A. Fenn in britischen Kriegsarchiven einiges an Plausibilität verloren. Zumindest ein Fall ist in den Militärakten eindeutig belegt: Im Fort Pitt im Jahre 1763 haben britische Soldaten während der Niederschlagung des sog. »Pontiac Aufstands« Decken aus einer Pockenstation als Geschenk den Gesandten der aufständischen Delaware übergeben, mit dem erklärten Ziel die um das Fort Pitt lebenden Stämme der Delaware, Shawnee und Mingo mit Pocken zu infizieren. Oder wie es der britische General Amherst in einem Brief vom 7. Juli 1763 an seinen Untergebenen Colonal Henry Bouquet formulierte:

»›Could it not be contrived to Send the Small Pox among those Disaffected Tribes of Indians? We must, on this occasion, Use Every Stratagem in our power to Reduce them.‹ Bouquet, now route to Fort Pitt with reinforcements, replied on July 13 […]: ›I will try to inocculate the Indians by means of Blankets that may fall in their hands, taking care however not to get the disease myself.‹ To this Amherst responded approvingly on July 16. ›You will Do well to try to Innoculate the Indians by means of Blanketts, as well as to try Every other method that can serve to Extirpate this Execreble Race.‹« (Fenn 2000: 1555ff)

Die Übergabe der Decken fand statt. Es lässt sich aber nicht beweisen, dass die Decken die (einzige) Ursache für den darauffolgenden Ausbruch der für viele Männer, Frauen und Kinder tödlichen Pocken war, da die Epidemie die Stämme auch auf anderen Wegen erreicht haben könnte. Die britische Armee war jedenfalls vom Erfolg ihrer Maßnahme überzeugt. Kannte man damals auch nicht die genaue Krankheitsursache, so hatte man doch einige Erfahrungen mit den Pocken und ihren Ansteckungswegen gesammelt. Es scheint daher auch nicht der einzige Fall gewesen zu sein. Aufgrund von weiteren Hinweisen vermutet zumindest Fenn, dass diese Art der biologischen Kriegsführung im 18. Jahrhundert im Kampf gegen die sog. »barbarischen« Völker verbreiteter war, als man lange Zeit annahm (Fenn 2000).

 

Wie Krankheiten Geschichte machen: die europäischen Siedlerkolonien

Doch auch ohne bewusste Planung war das Ergebnis für die europäischen Siedler und Siedlerinnen die Erfüllung ihrer Wünsche. Crosby kann daher zusammenfassend drei Lehren aus der Erfahrung der Europäer bei der Kolonisierung fremder Länder ziehen:

»Für die erfolgreiche Implantierung europäischer Siedlerkolonien jenseits der Grenzen des eigenen Kontinents gab es offenbar mehrere entscheidende Voraussetzungen: Erstens mußte die künftige Siedlung in einem Gebiet entstehen, wo Boden und Klima ähnlich beschaffen waren wie in einer Region Europas. Die Anpassung an fremde Boden- und Klimaverhältnisse mißlang den Europäern und ihrem Troß aus gezähmten, wilden und parasitären Lebewesen meist. Auf geeignetem Grund und Boden eine neue Variante von Europa zu schaffen, fiel ihnen dagegen leicht. Zweitens mußten die künftigen Kolonien weit von der Alten Welt entfernt liegen, so daß die Europäer möglichst keine Raubtiere und Krankheitserreger vorfanden, die schon konditioniert waren, die Europäer und ihre Pflanzen und Tiere zu attackieren. Weit entfernte Gebiete boten außerdem die Gewähr, daß die Ureinwohner keine oder nur wenige Nutztierarten wie zum Beispiel Pferde oder Rinder kannten. Hier konnten sich die Invasoren auf eine umfangreichere Großfamilie stützen als die Ureinwohner, was vermutlich – besonders auf längere Sicht – ein größerer Vorteil war als ihre militärische Überlegenheit. Außerdem garantierte die große Entfernung, daß die Einheimischen den von den Invasoren zwangsläufig eingeschleppten Krankheiten schutzlos ausgesetzt waren.« (ibid., 174f.)

Anders war es in tropischen Gebieten, wie etwa in Rio de Janeiro, wo einheimische Krankheiten dafür sorgten, dass die europäischen Einwanderer von Krankheiten dahingerafft wurden, und das tropische Klima mit seiner eigenen Fauna und Flora einen Transfer der europäischen Tier- und Pflanzenwelt erst gar nicht zuließ. Anstatt einer neo-europäischen Gesellschaft entstand dort daher in der Regel eine multi-ethnische, da die neu eingewanderte europäische Führungsschicht sehr bald begann, für die schweren Arbeiten afrikanische Sklaven und Sklavinnen zu importierten, die – wenn sie an Krankheiten oder an den schweren Strapazen auf den Plantagen und in den Bergwerken starben – schnell ersetzt werden konnten:

»Die Krankheiten wurden zum wichtigsten Bedingungsfaktor für die zwangsläufige Entwicklung der feuchtheißen Zone Amerikas zu einem ethnisch gemischten Siedlungsgebiet. Die indianische Urbevölkerung schmolz dahin, und die europäischen Einwanderer konnten sich nur mühsam am Leben halten – also brachten die Veranstalter des Transatlantikhandels als Ersatz für die indianischen Arbeitskräfte Millionen von Afrikanern in die feuchten Tropenregionen Amerikas. So kam es zu den neo-afrikanischen und ethnisch gemischten Gesellschaften von heute.« (ibid., 235)

In Afrika selbst war lange Zeit die Lage für Menschen aus Europa sogar noch prekärer. Aufgrund der klimatischen Verhältnisse und der afrikanischen Krankheiten war – abgesehen von Südafrika – an eine »biologische Expansion Europas« und eine damit einhergehende europäische Besiedelung überhaupt nicht zu denken. In Afrika war es auch eine Krankheit, die den Verlauf der politischen Geschichte mitbestimmte: Hier war es die Malaria, die jedoch – anders als die Pocken – nicht den indigenen Völkern, sondern den europäischen Händlern, Soldaten und Forschungsreisenden zum Verhängnis wurde und dem europäischen Imperialismus in Afrika (und einigen Gebieten Asiens) für mehrere Jahrhunderte Grenzen setzte. Ein Thema, dem Daniel R. Headrick in seinem Buch The Tools of Empire: Technology and European Imperialism in the Nineteenth Century nachgegangen ist.

 

Ich danke Karin Harrasser und Nicola Condoleo für ihre hilfreichen Kommentare und Anmerkungen zu dem Text.

 

Literatur:

Alfred W. Crosby (1972): The Columbian Exchange: Biological and Cultural Consequences of 1492. Santa Barbara: Greenwood Publishing Group.

Alfred W. Crosby (1986/2004): Ecological Imperialism. The biological Expansion of Europe, 900–1900. Second Edition, Cambridge: Cambridge University Press.

Alfred W. Crosby (1991; gekürzte Fassung): Die Früchte des weißen Mannes. Ökologischer Imperialismus 900–1900.Frankfurt/M., New York: Campus Verlag.

Alfred W. Crosby (1994): Germs, Seeds, and Animals: Studies in Ecological History. New York, London: M.E. Sharpe.

Elizabeth A. Fenn (2000): Biological Warfare in Eighteenth-Century North America: Beyond Jeffery Amherst. In: The Journal of American History, Vol. 86, No. 4, 1552-1580 https://www.jstor.org/stable/2567577.

Jeanne Guillemin (2005): Biological Weapons. From the Invention of State-Sponsored Programs to Contemporary Bioterrorism. New York: Columbia University Press.

Vitus Huber (2019): Die Konquistadoren. Cortes, Pizarro und die Eroberung Amerikas. München: C.H. Beck.

James C. Scott (2017): Against the Grain. A Deep History of the Earliest States. New Haven, London: Yale University Press.

Mark Wheelis (2002): Biological Warfare at the 1346 Siege of Caffa. In: Emerging Infectious Diseases 8(9), 971–975 https://dx.doi.org/10.3201/eid0809.010536.

 


Alfred W. Crosby »Ecological Imperialism: The Biological Expansion of Europe, 900-1900«