2016 — Die schädliche Fiktion der weißen Weste
Alexis Shotwells »Against Purity. Living ethically in compromised times« wiedergelesen
Von Julia Grillmayr
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Jemand in meiner Familie verschenkt leidenschaftlich gerne Zahnpflegeprodukte; normalerweise sehr hochwertige. Darunter war zuletzt eine Zahnpasta, die (weil sie für Männer ist) in Schwarz-Silber daherkommt und das Reinste vom Reinen verspricht. Mein Badezimmer ist voll von solchen Produkten, die sichtbar werden lassen, was Alexis Shotwell als »Reinheit, leicht gemacht« zusammenfasst. Wenn das Ding nicht gerade »WHITE NOW. MEN. SUPERPURE« brüllt, wie im Fall der verstörenden Zahnpasta, ist dieser Reinheitsimperativ leicht zu übersehen, weil er, wie Shotwell aufzeigt, tief in den westlich geprägten Kulturen und Philosophien verankert ist. Die kanadische Soziologin wird von einer Handseife der Marke Philosophy mit dem Slogan »purity made simple« angebrüllt und macht diese daraufhin zum Ausgangspunkt ihres Buches Against Purity. Living Ethically in Compromised Times (2016). Von der Herangehensweise Donna Haraways inspiriert, beginnt Shotwell damit, die Philosophy-Seife materiell-semiotisch zu zerlegen. Schon der Abgleich zwischen Werbungs-Wording und den Inhaltsstoffen bringt sie zu einem ganz anderen Reinheits-Gutachten als die Seifenmacher*innen vorschlagen und bringt sie außerdem gleich zur Hauptaussage von Against Purity, nämlich, dass es keinen einfachen Neustart gibt, keine weiße Weste, auf die man sich berufen könnte, keinen ursprünglichen Zustand, den man wiederherstellen könnte. So chemisch raffiniert eine Seife auch sein mag, Reinheit ist niemals einfach, sie ist vielmehr unmöglich und als Zukunftsversprechen schädlich.
Shotwell geht es im Folgenden darum zu zeigen, dass die »Reinheit, leicht gemacht«-Idee auf allen möglichen, hochgradig politischen Ebenen greift; auf moralischen, ökologischen und zwischenmenschlichen. In dieser Situation, in der ständig alles auseinanderfällt, bleibt uns nichts anderes übrig als vom Hier und Jetzt aus zu handeln, so schreibt sie weiter. Shotwell ist gerade im Flugzeug, als sie die Seife verwendet, am Heimweg von der Konferenz »Anthropocene: Arts of Living on a Damaged Planet« – was das Ganze noch verkompliziert. Denn die Idee eines reinen Ursprungs, einer unberührten Natur, einer anfangs weißen Weste, die nach und nach durch sündhaftes Handeln beschmutzt wird, stecke auch im Anthropozän-Diskurs und könne sogar als Marker für den Beginn des Anthropozäns herhalten. Es markiert den Moment, an dem Menschen beginnen sich um einen verlorenen Naturzustand zu sorgen beziehungsweise beschließen, dass eine solcher Zustand der Reinheit wünschens- und anstrebenswert ist. Gleichzeitig mache gerade das Konzept des Anthropozäns die vielschichtigen Verschränkungen und Verstrickungen deutlich, die eine »Reinheit, leicht gemacht«-Einstellung verunmöglichen. Nach einer Anthropozän-Konferenz in einem Fortbewegungsmittel, das unglaublich viel CO2 ausstößt, über Landstriche fliegend, die in brutaler Weise kolonisiert wurden, da ist an einfaches Reinwaschen per Handseife nicht zu denken.
Aufzuzeigen, dass das Private politisch ist und unser Alltag im Kapitalismus sowie (Post-)Kolonialismus niemals unschuldig, ist ein zentraler Bestandteil von feministischer (Wissenschafts-)Kritik. Shotwell schafft es, diese Un-Unschuldigkeit (non-innocence) und Komplexität des scheinbar Banalen nicht nur zu aktualisieren, sondern sie in sehr unterschiedlichen Kontexten aufleuchten zu lassen, wobei der besagte Reinheitsimperativ zu einem geeigneten roten Faden und Diagnose-Werkzeug wird. Ein Werkzeug, das auch helfen kann, verschiedene Aspekte der SARS-COV-2-Pandemie zu fassen zu bekommen.
So zeigt sie beispielsweise auf, wie Queere Theorie dabei helfen kann, Ursprungs- und Reinheitsnarrative über körperliche Normen auszuhebeln beziehungsweise sie abseits von arroganten oder schlichtweg faschistischen Begrifflichkeiten zu denken. In anderen Kapiteln bringt sie dies mit ökologischen Fragestellungen in Verbindung und zeigt dabei eindrucksvoll, wie die anthropogene (vor allem chemische, aber auch nukleare) Vergiftung ganzer Landstriche, die Verbundenheit von menschlichen und nicht-menschlichen Körpern anzeigt und wie es trotzdem, bei allem Fokus auf Interdependenz, gelingen kann, die Differenzen in der Betroffenheit und auch der Handlungsmacht der verschiedenen Akteur*innen geltend zu machen.
Die unbequeme Frage, die Shotwell dabei immer wieder stellt, ist, welche Veränderbarkeiten von Körpern wir (normalisieren) wollen und welche nicht. So stellt sie etwa zur Diskussion, wie gegen die angebliche »Verweiblichung« von Froschpopulationen durch anthropogene Verschmutzung der Umwelt argumentiert werden kann, ohne dabei die generelle Wandelbarkeit von sex und gender zu verneinen. Eine weitere unbequeme Frage, die hier auftaucht ist, welche »Anderen« wir in diesem Prozess akzeptieren und welche nicht. Auch wenn es uns in der Praxis leicht fällt, das »Andere« in Form unseres Darm-Mikrobioms von beispielsweise einem Corona-Virus zu unterschieden, und das erstere als Freund*in, das zweitere als Eindringling zu rahmen, ist diese Unterscheidung, so argumentiert Shotwell, konzeptuell gar nicht so einfach. Welche mikroskopischen »Anderen” heißen wir im Sinne eines Mit-Werdens willkommen, gegen welche soll, wie es aktuell oft heißt, Krieg geführt werden?
Mit einem Blick in die Vergangenheit sowie auf aktuelle Erinnerungskulturen, zeigt Against Purity auf, dass es einen Unterschied macht, vor welchem Hintergrund und mit welchen Begrifflichkeiten wir diese Unterscheidungen treffen. So beschreibt Shotwell etwa, wie in den USA und in Kanada von offizieller, staatlicher Seite aus mit indigenen Gemeinschaften umgegangen wird, die koloniale Gewalt in struktureller und physischer Form erfahren (haben). In diesem Zusammenhang macht sie einen problematischen, mit dem Reinheitsethos verwandten »Healthism« aus, die Idee, dass es die moralische Verantwortung jede*r Einzelnen ist, sich gesund zu halten. Dies drücke sich letztendlich darin aus, dass Übergewicht, Diabetes, Krebs und andere chronische Krankheiten als moralisches Versagen der jeweiligen Person hingestellt werde. Dieses individualistische Konzept von Gesundheit sei allein auf einen menschlichen Körper ausgerichtet und erlaubt es nicht, andere menschliche und nicht-menschliche Körper, Landschaften und Geschichten miteinzubeziehen. Damit gehen die vielschichtigen Verflechtungen zwischen sozialen, politischen und ökologischen Faktoren verloren, die Shotwell unter dem Begriff der Interdependenz fasst.
Interdependenz heißt, mit anderen vermischt zu sein und zwar so gründlich vermischt, dass klare Grenzziehungen unmöglich sind, aber auch spezifisch vermischt. Vermischt zu sein, heißt nicht »eins« bzw. »gleich« zu sein. Darum ist die Interdependenz und die verschiedenen Kontexte, in denen Shotwell dieses Konzept beleuchtet, auch so brauchbar, um über die SARS-COV-2-Pandemie und vor allem der über die Rhetorik und Politik, die mit ihr einhergeht, nachzudenken. Der Versuch SARS-COV-2 auf Nationalstaaten zu kartographieren, um ein klares Feindbild zu erhalten, entpuppt sich schnell als rassistische Fiktion; es gibt keine »Volkskörper«, die voneinander getrennt werden könnten. Gleichzeitig treten aber sofort die sozioökonomischen Ungleichheiten hervor, die durch die Auswirkungen der Pandemie noch verstärkt werden; nicht nur auf einer globalen Ebene, sondern auch innerhalb einzelner, wohlhabender Volkswirtschaften, wie etwa Österreich. Aus einem »We are all in this together« wurde sofort ein »COVID-19 affects us all — unequally«.
Auch das Phänomen »Healthism« bekommt mit der Pandemie nicht nur eine andere Dimension, sondern auch eine andere Qualität, insofern, als dass die Verantwortung für den eigenen Körper nun mit der Verantwortung für die Gemeinschaft gleichgesetzt wird. Das ist einerseits eine Weise besagte Interdependenz ernst zu nehmen, dient aber andererseits oft einer moralisierenden Vorverurteilung und beruft sich letztendlich oftmals auf Stereotype. Gegen die diversen »Reinheit, leicht gemacht«-Mechanismen zu arbeiten, ist also ein ständiger Prozess, ein ständiges Sortieren, ein ständiges die eigene Position Abklopfen und andere Perspektiven Einnehmen. Um diesen Prozess in das eigene Nachdenken zu bringen, sind die unterschiedlichen Fallstudien, die Against Purity aufführt, sehr hilfreich.
Unschlüssig bin ich im Hinblick darauf, ob die Situation, die die Pandemie kreiert, tatsächlich anti-kapitalistische Bewegungen und Handlungen im Sinne eines »ethisch lebens in kompromittierten Zeiten« begünstigt, wie es sich einige linke Intellektuelle versprechen. Stellenweise erscheint mir diese Argumentation verdächtig nahe an der Idee eines »frischen Durchstartens«q, vor der ich, spätestens seit dieser Lektüre, gewarnt bin. So betont Alexis Shotwell auch in einem aktuellen Artikel, dass die Corona-Pandemie die destruktiven Dynamiken, in die uns der Kapitalismus verstrickt, alles andere als auflöst – was es wiederum noch dringlicher mache, sich eine gewünschte Zukunft in der Gegenwart zu erzählen. Auch Corona befreit uns nicht von Bürde vom Hier und Jetzt aus zu denken, aber es könnte, so lese ich Shotwell, an alten Erzählungen rütteln, die dringend durch neue ersetzt werden sollten.
Ich danke Julia Boog und Karin Harrasser für die wichtigen Hinweise und Anregungen zu diesem Text.
Alexis Shotwells »Against Purity. Living ethically in compromised times« bei Google Books.